Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Überrascht hat mich aber schon, wie stark unsere Arbeit von anderen persönlichen und parteipolitischen Interessen beeinflusst und teilweise überlagert wurde, obwohl es für die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit im Prinzip ein parteiübergreifendes Einverständnis gegeben hatte. Am deutlichsten zeigte sich diese Entwicklung in dem sehr speziellen Fall Manfred Stolpe.
Der begabte und politisch ambitionierte Jurist war als Leiter des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR bekannt geworden und hatte sich in Ost und West gleichermaßen Respekt verschafft. Sein hohes Renommee hatte er als Konsistorialpräsident der Berlin-Brandenburgischen Kirche noch ausgebaut, unter anderem als stellvertretender Vorsitzender des evangelischen Kirchenbundes in der DDR. In der Umbruchzeit war er der SPD beigetreten und hatte als einziger Sozialdemokrat im Osten die Position des Ministerpräsidenten eines Bundeslandes errungen.
Bevor es einen »Fall« Stolpe gab, gab es ein Gerücht; erstmals tauchte es im Sommer 1990 auf. Wie im Fall des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière (IM Czerni) war ich zunächst empört. Stolpe war doch einer unserer wichtigsten Protagonisten! Noch im Sommer 1991, als ich mit anderen Bürgerrechtlern mit der Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet worden war, hatten wir uns als Laudator Manfred Stolpe gewünscht. Wir hatten keinerlei Misstrauen.
Später, er war schon Ministerpräsident, ich Bundesbeauftragter, lud er mich einmal zum Essen ein. Wir trafen uns in dem leeren, teuren Restaurant des Palast-Hotels, irgendwo hockte sein Bodyguard. Wir führten anderthalb Stunden lang einen Smalltalk, ein Aquarium in der Nähe lenkte mich immer wieder ab. Ich fragte mich, weshalb dieses Treffen arrangiert worden war. Erst später deutete ich sein Verhalten so, dass Bruder Stolpe wohl hatte wissen wollen, ob Bruder Gauck etwas wusste.
Irgendwann erhielten wir dann einen Anruf aus der Staatskanzlei in Potsdam: Ob uns die neuen Gerüchte über Herrn Stolpe zu Ohren gekommen seien? Ich stellte sofort einen Arbeitsstab zusammen, fuhr selbst hinaus in das Archiv in der Normannenstraße und gab der Staatskanzlei zu verstehen: »Sobald Sie grünes Licht geben, fangen wir mit der Materialsuche an.« Der Ministerpräsident sollte doch vor Verleumdung geschützt werden. Doch dann erschien Stolpes West-Berliner Anwalt Peter Danckert, bedankte sich im Namen des Ministerpräsidenten für unseren Eifer - und blies die Aktion ab. Eine vorgezogene Suchaktion sei nicht erforderlich, Stolpe werde demnächst sowieso überprüft als Mitglied des Landtags und der Regierung. Ich war überrascht, doch überzeugt. Eine gute Idee! Warum sollten wir das Gerücht hochspielen? »Sich nicht nervös machen lassen, das ist die richtige Haltung«, pflichtete ich bei und fügte noch hinzu: »Es wäre schön, wenn sich Stolpe bei meinen Leuten, die mit Überstunden Gewehr bei Fuß gestanden haben, mit einem Kasten Bier erkenntlich zeigen würde.«
Als dann das erste Dokument auftauchte, in dem Stolpe tatsächlich am Rande erwähnt wurde, empfing ich den Ministerpräsidenten mit seinem Justizminister Hans-Otto Bräutigam, dem ehemaligen Ständigen Vertreter Bonns in Ost-Berlin, kurz in meinem Büro. Dann ging Geiger mit den beiden ein Stockwerk höher, um ihnen die ersten Funde zu präsentieren. Von ihrem Charakter her, erklärte Geiger, seien die Papiere nicht eindeutig zuzuordnen, zu einer Opferakte Stolpe gehörten sie aber sicher nicht. An einer Stelle war von einem IM Sekretär die
Rede, doch uns war unbekannt, wer sich hinter diesem Decknamen verbarg.
Stolpe fragte schließlich: »Was soll ich denn der Presse sagen, die vor der Tür steht?« (Wir hatten die Presse nicht gerufen.)
»Ich würde mich sehr zurückhalten«, riet Geiger, »da aus dem Dokument keine eindeutigen Schlüsse zu ziehen sind.«
Unten erwarteten ihn die Journalisten schon. Die Scheinwerfer gingen an, und Manfred Stolpe erklärte vor laufenden Kameras, er sei ein Opfer der Stasi. Geiger verschlug es die Sprache.
Eine Pause trat ein. Im Januar 1992 trat Manfred Stolpe dann die Flucht nach vorn an und ließ im Spiegel Auszüge aus seinen Erinnerungen »Schwieriger Aufbruch« veröffentlichen, in denen er darlegte, wie er seit den sechziger Jahren regelmäßig Gespräche mit Mitarbeitern und Offizieren des MfS geführt habe, um »politische Ziele auch auf dem Weg über die Staatssicherheit« zu erreichen. Nun bestand Aufklärungsbedarf.
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