Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Am 12. Februar richtete der Brandenburger Landtag einen Untersuchungsausschuss ein.
Wohl kaum ein Fall hat die Öffentlichkeit so polarisiert. Für die Brandenburger war der joviale Landesvater eine Integrationsfigur. Er sprach den meisten aus der Seele, wenn er erklärte, er sei kein Held gewesen, habe vielmehr wie die meisten DDR-Bürger nur versucht, einen Modus vivendi zu finden, irgendwie anständig zu überleben. Seine Haltung entschuldete viele. Wer wollte sich schon an den Widerständigen oder Oppositionellen messen lassen und permanent mit einem schlechten Gewissen leben? Es sprach vielen auch aus dem Herzen, wenn er an ein neues Wir-Gefühl appellierte, das jede Form der Erörterung der Stasi-Verstrickung Einzelner zu einem Generalangriff auf ostdeutsches Selbstverständnis erklärte - grotesk genug, wenn man sich vor Augen führt, dass sich gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung als IM hatte einspannen lassen. Im Herbst 1992 wurde Stolpe von 84 Prozent aller Brandenburger unterstützt.
Sympathieträger wie er konnten auch im Westen Beistand aus den verschiedensten Lagern mobilisieren. Stolpe war everybodys darling. Helmut Schmidt, die SPD und die Zeit wollten ihn nicht
fallen lassen, weil er der einzige sozialdemokratische Ministerpräsident im Osten war, alle anderen Bundesländer waren in den Händen der CDU. Sie wollten sich nicht distanzieren, weil sie dann einen selbstkritischen Blick auf ihre eigene Haltung gegenüber der DDR hätten werfen müssen. Hatten sie vom Westen aus nicht eine ähnliche Politik betrieben wie Stolpe im Osten, als sie versuchten, die SED zu einem »besonnenen« Verhalten zu bewegen und gleichzeitig besänftigend, »konfliktminimierend« auf die Opposition einzuwirken? Richard von Weizsäcker wollte seine Evangelische Kirche vor Schaden bewahren. »Wir wussten doch«, sagte er einmal zu mir, »dass die Leute aus der DDR, die uns im Westen kontaktierten, es hinterher weiterleiten.« Darauf ich: »Sind Sie also, als ich Sie um eine Intervention wegen der verhafteten Gunnar und Ute Christopher bat, davon ausgegangen, dass ich darüber anschließend der Staatssicherheit berichte?« Auch in der kirchlichen Öffentlichkeit und sogar bei einigen Oppositionellen von einst wie Friedrich Schorlemmer fand Stolpe Fürsprecher und ebenso bei den großen Medien.
Der Untersuchungsausschuss, den der Landtag Brandenburg im Februar 1992 einsetzte, folgte in den gut zwei Jahren seiner Arbeit mehrheitlich den oft widersprüchlichen Erklärungsmustern von Stolpe. Dieser hat immer bestritten, ein IM gewesen zu sein. Seine schärfsten Kritiker fanden sich in den Reihen von Bündnis 90. Marianne Birthler, damals Bildungsministerin in seinem Kabinett, legte im Sommer 1992 ihr Landtagsmandat nieder, Ende Oktober trat sie auch als Ministerin zurück. Im Frühjahr 1994 kam es schließlich zu einem Bruch der Koalition von SPD und Bündnis 90, als Bündnis-Fraktionschef Günter Nooke trotz eines Ultimatums nicht von seiner Kritik an Stolpe abrücken wollte.
Die eigentliche Akte zu IM Sekretär existiert nicht. Daher wissen wir bis heute nicht, ob es eine Unterschrift gegeben hat oder nicht - MfS-Zeugen erklärten vor dem Untersuchungsausschuss, es habe weder eine mündliche noch eine schriftliche Verpflichtungserklärung gegeben. Bekannt ist aber, dass Stolpe 1964 als IM-Vorlauf registriert und 1970 unter dem Decknamen
»Sekretär« als IM von der Hauptabteilung XX/4 (zur Bearbeitung der Kirche) übernommen wurde. Bekannt ist auch, dass er 1976 als Sekretär des DDR-Kirchenbundes geholfen hat, öffentliche Proteste gegen die Selbstverbrennung des Pastors Oskar Brüsewitz zu unterbinden, dass er 1978 eine Verdienstmedaille und Geschenke in Form eines wertvollen »Atlas des Großen Kurfürst« sowie eine Bibel aus dem Jahre 1599 erhalten und sich regelmäßig in konspirativen Wohnungen mit MfS-Offizieren getroffen hat. Anfang April 1992 ist unsere Behörde in einem Gutachten daher zu dem Schluss gelangt, dass Stolpe »nach den Maßstäben des Ministeriums für Staatssicherheit über einen Zeitraum von circa 20 Jahren ein wichtiger IM im Bereich der Evangelischen Kirche der DDR war«. Diese Einschätzung ergab sich aus den vorgefundenen Akten.
Über die Frage, ob Manfred Stolpe eine DDR-Verdienstmedaille aus den Händen des inzwischen verstorbenen Staatssekretärs für Kirchenfragen Hans Seigewasser (so Stolpes Version, dann wäre es eine staatliche Auszeichnung gewesen) oder aber aus den Händen
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