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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Moral auf meiner Seite sah. In der Oberschule buhlte ich besonders bei der geliebten jungen Deutschlehrerin Frau Krause um Aufmerksamkeit - mal mit einem guten Aufsatz oder Zitaten von Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse und anderen sensiblen, feingeistigen Autoren, mal mit reinem Blödsinn und Übermut. Während einmal alle anderen über einem Aufsatz brüteten, machte ich nur dumme Sprüche.

    Nach der ersten Stunde ermahnte mich Frau Krause: »Hat das nicht bald ein Ende, Joachim?«
    Nach einer weiteren halben Stunde: »Sie haben ja immer noch nichts geschrieben!«
    »Nein, Frau Krause«, sagte ich, »die Muse hat mich noch nicht geküsst.«
    Sie warf mich hinaus. Beim gegenüberliegenden Bäcker kaufte ich 28 Kuchenteilchen - das Stück zu fünfzehn Pfennig -, ging zurück in die Klasse und verteilte sie unter den Klassenkameraden. Dann stolzierte ich mit pubertärem Hochgefühl wieder hinaus und machte mir einen schönen Tag. Der kantige und souveräne Kommentar der jungen Lehrerin stand auf der leeren Seite im Aufsatzheft und bestand aus einer einzigen Zahl in Rot: 5, Krause.
    Ein anderes Mal hatte ich den in Umlauf befindlichen Spruch »Aljoscha, die Kolchose brennt, rette die Parteibücher!« abgewandelt und mit einer Melodie unterlegt, die ich als russische Volksweise ausgab. Als wir dann wie üblich zu Beginn des Unterrichts ein Lied anstimmen mussten, hob die ganze Klasse an:
    Aljoscha, Aljoscha, die Kolchose brennt!
    Sattele die Hühnerchen, rette das Parteibüchlein!
    Aljoscha, Aljoscha, die Kolchose brennt!
    Lautstarkes Geklapper mit Dosen und Linealen begleitete die Vorführung. Frau Krause teilte unsere Begeisterung über die Neuschöpfung keineswegs, aber sie verpfiff uns nicht, und wir liebten sie dafür. Wir respektierten sie, obwohl sie systemkonform war, denn sie war offen und las auch Texte mit uns, die im Lehrplan nicht vorgesehen waren. Nie hatten wir den Eindruck, dass sie uns schaden wolle. So habe ich sie später auch zu Hause besucht und ihr Gedichte gezeigt, die mein Vater in seiner Gefängniszeit verfasst, auswendig gelernt und nach seiner Rückkehr niedergeschrieben hatte.
    Die nicht angepassten oder gar oppositionellen Kinder bildeten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre noch die Mehrheit in den Klassen. So umgab mich ein Schutz. Nicht, dass alle mein
Verhalten unterstützt hätten, dazu waren viele zu vorsichtig. Aber sie högten sich doch - sie freuten sich diebisch, wenn jemand den Mund aufmachte und Dinge sagte, die sie selber nur dachten oder auf den langen Schulwegen äußerten, wenn man unter sich war. Auch wenn ich in der Klassenhierarchie nicht ganz oben stand, besaß ich eine gewisse Autorität und konnte immer auf einen Teil der Mitschüler zählen. Das war eine gute Erfahrung: Die »Anständigen« sind auf meiner Seite. Das vermittelte das Gefühl einer moralischen Legitimität und Akzeptanz.
    Oft fiel es mir leicht, der ideologischen Beeinflussung in Schule und Öffentlichkeit zu widerstehen. Aber bei einem Thema war es für mich schwer, Abstand zu gewinnen: bei der Erziehung zum Antifaschismus. Das kreatürliche Mitgefühl ist immer auf der Seite der Opfer. So litt ich auch mit den Kommunisten, von deren Widerstand gegen die Nazis wir hörten. Doch bald wurde ich immun gegen den Antifaschismus des Systems. Selbst wenn in der Schule oder im Kino der Märtyrertod Ernst Thälmanns oder die Leistungen der Sowjetarmee bei der Niederwerfung der Nazi-Diktatur gewürdigt wurden, selbst wenn wir der Opfer des Faschismus gedachten, entwickelte ich eine innere Reserve. Ich wollte mich nicht gewinnen lassen von meinen Unterdrückern. Ich konnte keine Empathie für Menschen entwickeln, deren Leben und Sterben in Dienst genommen wurden von einer verlogenen Propaganda. Hätte ich im Westen gelebt und Anna Seghers’ »Das siebte Kreuz« gelesen, ich wäre sicher ergriffen gewesen. Als wir Schüler aber damals ins Kino geführt wurden und »Ernst Thälmann, Sohn seiner Klasse« sahen, argwöhnte ich, die Tatsachen seien manipuliert oder halbwahr. Ich glaubte »ihnen« nicht. Wenn Falsche das Richtige sagen, wird leicht auch das Richtige falsch. Eine bestürzende Erkenntnis im Nachhinein. Ich musste sehr viel älter werden, um einen eigenen, nicht vom Staat diktierten Zugang zum Leiden auch von Kommunisten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu gewinnen. Dann jedoch empfand ich tiefen Respekt vor diesen Menschen, die oft die Letzten waren, die noch an Widerstand gedacht und

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