Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Euphorie. Erst einmal fiel für einen Tag Schule aus. Dann wurde das Fach Gegenwartskunde - später Staatsbürgerkunde - vorübergehend gestrichen. Lehrer, die bis dahin besonders ideologiefest aufgetreten waren, machten einen verschüchterten und verklemmten Eindruck, einige ließen sich zu selbstkritischen Bemerkungen hinreißen. Und ältere Schüler, die von der Schule geworfen worden waren, weil sie sich als Christen nicht von der Jungen Gemeinde getrennt hatten, kamen zurück und durften das Abitur nachholen.
Auch unter den Arbeitern und Bauern in unserem immer als schlafmützig belächelten Mecklenburg gärte es. Am 18. Juni morgens ab neun Uhr streikten 5000 Arbeiter auf der Neptun-Werft: »Wir fordern, dass die Regierung zurücktritt!« Insgesamt traten über 10 000 Arbeiter, rund ein Drittel der Belegschaften, in den Hafenstädten Rostock und Stralsund in den Ausstand. Am 18. Juni unterbrachen Bauern die Rede des Kreissekretärs der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe immer wieder mit Zwischenrufen wie: »Euch müsste man alle aufhängen und totschlagen, besonders aber auch die Regierung, die alle Verbrecher sind.« Ein anonymer Briefschreiber drohte dem Rostocker Bürgermeister und den »Bonzen in der SED«: »Alle werden wir euch hängen. Ihr Lumpen, Strolche, Russenknechte, Speichellecker, Abschaum der Menschheit, wir verlangen unsere Freiheit. Acht Jahre habt ihr uns
hungern lassen. Ihr seid die Pest am deutschen Volk. Mit euren Lügen und leeren Versprechungen ist es aus. Adenauer wollen wir haben, keinen anderen, einen Menschen mit Verstand.«
Wochenlang - das wissen wir heute aufgrund von Dokumenten, die sich nach 1989 fanden - war die SED damals gelähmt. »Die Parteimitglieder und Parteileitungen befinden sich gegenwärtig in der Defensive und im Schlepptau der Massen«, konstatierte die Bezirksleitung Rostock im Juli 1953. »Der Gegner hat einen großen Einfluss in den Reihen unserer Mitglieder gewonnen.« 22 Mitglieder der SED-Grundorganisation gaben allein in der Kleinstadt Sassnitz auf Rügen ihre Parteidokumente zurück, einige FDJ-Grundorganisationen verfügten über keine Leitung mehr. Funktionäre, Parteimitglieder und FDJler wurden provoziert, überfallen und niedergeschlagen.
Doch dann blieb alles beim Alten, obwohl das Regime durch die Rücknahme der Normenerhöhung versuchte, innenpolitisch Druck aus dem Kessel zu nehmen. Aber der Aufstand wurde erstickt. 55 Menschen bezahlten ihren Protest mit dem Leben, über 5000 wurden verhaftet. Der viel kritisierte Parteichef Walter Ulbricht kam ungeschoren davon, stattdessen wurden Reformer der Partei wie der Chefredakteur des Neuen Deutschland , Rudolf Herrnstadt, und der Stasi-Chef Wilhelm Zaisser kaltgestellt. Nach einer kurzen Zwischenphase hatten sich in Moskau nach Stalins Tod wieder die Hardliner durchgesetzt.
Aber für uns änderte sich doch etwas. Am 2. September 1953 wurde meine Mutter auf ausdrückliche Anordnung der Staatssicherheit mündlich benachrichtigt, »dass ihr Ehemann am 6.7.1951 wegen feindlicher Tätigkeit gegen die Besatzungsmächte zu 25 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden« sei.
Nun wusste sie wenigstens, dass er lebte, und sie wusste, dass er sich in der Sowjetunion befand. »Ich habe allerdings keine Erklärung dafür«, schrieb sie dem sowjetischen Botschafter Wladimir Semjonow kurz darauf, »worin seine Schuld bestanden haben könnte, und es ist uns allen, die wir meinen Mann kennen, unfassbar … Wir leiden naturgemäß schwer darunter, dass wir seit Jahr
und Tag ohne jede Nachricht von ihm sind. Wie glücklich wären wir über ein kleines Lebenszeichen! Es wäre das ein menschliches Entgegenkommen, für das wir alle, nicht zuletzt die Kinder, unendlich dankbar wären. Bitte erlauben Sie ihm, eine kurze Antwort an uns zu senden.«
Es war ein Versuch, nach den unzähligen folgenlosen Bittbriefen seit der Verhaftung ohne große Hoffnung geschrieben. Doch es war die Zeit einer gewissen Lockerung im Gulag-System. Eines Tages brachte der Postbote eine eigentümliche Briefkarte im A6-Format, deren Vorderseite russische Schriftzeichen trug, auf deren Rückseite wir aber die unverkennbare Handschrift unseres Vaters erkannten. Das erste Lebenszeichen von ihm nach über zwei Jahren! Als Absender war eine Nummer in Moskau angegeben, die wir später mit Hilfe eines Artikels über den Gulag in einer westdeutschen Zeitung als ein Lager in Tajschet entschlüsselten. Wir konnten auf dem Atlas suchen: Wo liegt denn
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