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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Tajschet? Wo ist unser Vater jetzt?
    Vaters erste drei Karten hatten fast denselben Wortlaut, so dass wir davon ausgehen mussten, dass er unsere Karten nicht erhalten hatte. Bald antwortete nur noch unsere Mutter, denn wir Kinder füllten die beigeheftete Karte bereits mit wenigen Großbuchstaben aus. Dann schrieb Vater, er dürfe Pakete bekommen, nicht schwerer als zehn Pfund. So schickten wir Pakete, ohne sicher zu sein, ob sie ihn erreichen würden. Wir besorgten Zucker, Unterwäsche, Handschuhe, Socken, eine Salami, eingelegte Sardinen, Kekse und Knoblauch, den ich in unserer Familie zuvor niemals gesehen hatte. Auch Fotos zu schicken war erlaubt. Mutter ging mit uns zum Fotografen und ließ uns fotografieren, in Sonntagskleidung, sorgfältig gekämmt, mit kleinem Lächeln.
    Diese Bilder existieren noch. Ein Mithäftling kommentierte beim Anblick der wohlgenährten Kinder nicht ohne Bitterkeit: »Aber wir haben doch den Krieg gewonnen!« Manchmal bettelten zerlumpte russische Kinder die Sträflinge an, wenn sie aus dem Tor zur Arbeit geführt wurden: »Gib Gold! Gib Gold!« Selbstverständlich besaß keiner Gold, aber da mein Vater nun gelegentlich
Schokolade aus Westdeutschland erhielt, hatte er Stan niolpapier; das schenkte er den bettelnden Kindern. Ein eigentümliches Gefühl sei das gewesen, sagte mein Vater, »einerseits war man als Sträfling der letzte Dreck des Sowjetregimes, andererseits wurde man angebettelt von den Kindern der ›Freien‹«.

    Einband des Fotoalbums, das mein Vater sich in Sibirien gebastelt hat. Als wir nach zwei Jahren endlich ein Lebenszeichen von ihm erhalten hatten, durften wir ihm einmal im Monat ein Paket schicken und konnten ihm so Fotos zukommen lassen.
    Die Briefe verschafften uns eine gewisse Beruhigung und Hoffnung, obwohl wir selbstverständlich nicht erfuhren, warum er verurteilt worden war und wann er eventuell freikommen könnte. Merkwürdig war nur, dass Oma Warremann eines Tages begann, die Kleidung meines Vaters zu lüften und seine Wäsche aus den Schränken herauszuholen, zu waschen und zu bügeln, ohne dass es einen konkreten Hinweis auf seine Rückkehr gegeben hätte. Es war irrational, wer oder was mochte ihr das eingegeben haben?
    Wir wussten allerdings aus den estnachrichten, dass Bundeskanzler Konrad Adenauer Anfang September 1955 auf Einladung des Kreml zu einem Arbeitsbesuch nach Moskau gereist war.
Schon vor der Abreise hatte er die Freilassung der 10000 deutschen Kriegsgefangenen und 20 000 Zivilinternierten zu seinem größten Anliegen erklärt, das er nach schwierigen Verhandlungen im Tausch gegen diplomatische Beziehungen auch tatsächlich durchsetzen konnte. Ich saß in jener Zeit oft vor dem Radio, hörte, wie Adenauer bei seiner Rückkehr auf dem Flughafen Köln/Bonn begeistert gefeiert wurde, hörte, wie bewegt die Mütter, Frauen, Schwestern und Brüder die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten empfingen, die vom 7. Oktober an in Friedland eintrafen.

    Vaters russische Mitgefangene schauten staunend auf die Bilder: »So sehen deine Kinder aus?«, fragten sie, »seid ihr reich? So runde Gesichter!« Das Foto von 1953 zeigt mich mit meinen Geschwistern Sabine, Marianne und Eckart.
    Am 19. Oktober wurde ich überraschend ins Direktorenzimmer gerufen. Ich war mir keiner Schuld bewusst, ging aber mit dem beklommenen Gefühl eines Jungen, der nicht gerade ein Musterschüler ist. Wider Erwarten empfing mich der kommunistische Direktor freundlich und teilte mir nicht ohne Rührung mit: »Ich habe gerade den Anruf bekommen - dein Vater ist zurückgekommen.« Er stand auf, gab mir feierlich die Hand, ich
durfte nach Hause gehen. Wie betäubt lief ich in die Klasse, nahm wortlos meine Tasche, fuhr wie üblich mit der Straßenbahn bis zur Endstation und lief dann noch zehn Minuten zu Fuß. Du musst jetzt glücklich sein, sagte eine Stimme in mir. Doch ich vermochte es nicht. Zu Hause saß ein Mann fast ohne Zähne, mit stark gelichtetem Haar, sehr hageren, aber sehr männlichen Gesichtszügen. Er war mir vertraut, doch zugleich sehr fremd. Ob wir uns umarmt haben? Ich weiß es nicht. Männer taten so etwas nicht.
    Sobald Vater am 19.Oktober 1955 im Aufnahmelager Fürstenwalde angekommen war, wo die Freigelassenen mit Kleidung, ein wenig Geld und einer Mahlzeit versorgt worden waren, hatte er meine Tante angerufen, die als eine von wenigen bereits ein Telefon besaß.
    »Hilde, sitzt du?«, fragte er in seiner ironischen Art.
    Und sie: »Mein Gott,

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