Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
ihn praktiziert
hatten. Sie riskierten ihr Leben - mit dieser seltenen und kostbaren Haltung haben sie mehr gegeben, als die meisten Menschen vermögen, und damit bleibende Zeichen gesetzt.
Damals bewegten mich andere Ereignisse allerdings mehr. Die Weltgeschichte hatte Überraschungen bereit, die selbst einen Dreizehnjährigen zu elektrisieren vermochten.
Am 5. März 1953 starb Josef Wissarionowitsch Stalin, der große Lenker und geniale Kopf, der »Vater der Völker und große Führer der fortschrittlichen Menschheit«. In allen Schulen wurde das Ereignis in einer Mischung aus Erschrecken und pompösem Gebaren inszeniert. In den Kindergärten, den Betrieben, in allen Institutionen entstanden Komitees zur Organisierung der Trauerfeiern. Die Bilder aus der Schule, den Wochenschauen, aus den Defa-Filmen im Kino und den Zeitungen schieben sich in meiner Erinnerung zu einem einzigen pathetischen Panorama zusammen. Einige Dichter verfassten Kantaten und Poeme, Johannes R. Becher erging sich in einem panegyrischen Exzess:
Es wird ganz Deutschland einstmals Stalin danken.
In jeder Stadt steht Stalins Monument.
Dort wird er sein, wo sich die Reben ranken,
Und dort in Kiel erkennt ihn ein Student.
Dort wird er sein, wo sich von ihm die Fluten
Des Rheins erzählen und der Kölner Dom.
Dort wird er sein, in allem Schönen, Guten.
Auf jedem Berg, auf jedem deutschen Strom.
Du trittst herein. Welch eine warme Helle
Strömt von Dir aus und was für eine Kraft
Und der Gefangene singt in seiner Zelle.
Er fühlt als Riese sich in seiner Haft.
In Stalins Namen wird sich Deutschland einen.
Er ist es, der den Frieden uns erhält.
So bleibt er unser und wir sind die Seinen.
Und »Stalin, Stalin« heißt das Glück der Welt.
Mein Vater erfuhr von Stalins Tod beim Arbeitseinsatz in einer Latrine. Er war gerade damit beschäftigt, den gefrorenen Kot abzuschlagen, der sich in den Gräben unter den Donnerbalken im kalten März zu hohen Stalagmiten auftürmte, als die Sirenen des nahe gelegenen Holzwerkes zu heulen begannen und gar nicht wieder aufhörten. Etwas Außergewöhnliches musste vorgefallen sein. Der Ukrainer, mit dem er zusammenarbeitete, blickte fragend durch den Donnerbalken zu ihm hinunter und strich mit zwei Fingern mehrfach die Oberlippe auf und ab, um einen Bart anzudeuten: »Ob DER gestorben ist?«
Meine Familie empfand es als angenehm tröstlich, dass ein solcher Machthaber, wie ihn die Welt zuvor selten gesehen hatte, sterblich war. Wenn ein Diktator seine zeitliche Begrenzung erfährt, hat dies eine ganz andere Bedeutung, als wenn jedermann dahingeht. Für uns hatte Stalins Tod einen banalen, aber doch sehr wirksamen Trost: Auch Diktatoren leben nicht ewig.
Wenn man sich die Zeitungen, die Rundfunkberichte und Wochenschauen dieser Zeit ins Gedächtnis ruft, erscheint unvorstellbar, was wenige Wochen später in dem Trauerland passieren sollte.
Am 16. Juni 1953 protestierten Arbeiter in Ost-Berlin gegen eine zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen. Auch freie Wahlen wurden gefordert und der Rücktritt der Regierung. Die Protestierenden schrieben es auf und riefen es einander zu: »Wir wollen freie Menschen sein!«
Ich war außer mir vor Aufregung und Erwartung und verbrachte ganze Nachmittage und Abende vor dem Radio, denn man konnte die Westsender hören - außer dem RIAS, der war bei uns gestört. Von zwei Berliner Betrieben aus, so erfuhr ich, hatte sich ein kleiner Protestzug formiert, dem sich auf dem Weg zum Haus der Gewerkschaften und zum Regierungssitz in der Leipziger Straße immer mehr Arbeiter angeschlossen hatten. Unglaublich, dass so etwas möglich war, wo es doch keine freien Gewerkschaften gab! Am 17. Juni erfasste der Aufstand fast die ganze DDR. Wahrscheinlich eine Million Menschen gingen auf die
Straßen; in siebenhundert Orten wurde demonstriert, mehrere Gefängnisse und Polizeireviere wurden gestürmt. In 167 von 217 Landkreisen wurde der Ausnahmezustand verhängt.
Ich erinnere mich an die großen Plakate des sowjetischen Militärkommandanten an den Litfaß-Säulen: »Befehl Nummer 1: Alle Demonstrationen,Versammlungen, Kundgebungen und sonstige Menschenansammlungen über drei Personen werden auf Straßen und Plätzen wie auch in öffentlichen Gebäuden verboten.«
Es herrschte Kriegsrecht; die Regierungsgewalt lag wieder in den Händen der sowjetischen Truppen. Doch in unserer Familie, unter unseren Freunden und Mitschülern herrschte nicht Angst, sondern eine unglaubliche
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