Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Esel Lesen und Schreiben beizubringen, ich bäte mir dazu 25 Jahre Zeit aus. Die hat er mir bewilligt.«
Da sagte das Volk: »Nasredin, du bis ein Narr! Auch in 25 Jahren wirst du deinem Esel kein Abc beibringen und wirst deinen Kopf verlieren!«
Doch Nasredin antwortete: »Die Narren seid ihr! In 25 Jahren sterbe entweder ich oder der Esel oder der Kalif!«
»Und der große grausame Kalif Stalin«, so schloss mein Vater, »ist tatsächlich gestorben, ich aber lebe noch, und die Esel sterben nicht aus.«
Als Vater eine Arbeit als Lotse aufnahm und wie alle Kapitäne gefragt wurde, ob er nicht Mitglied der SED werden wolle, antwortete er mit einer Gegenfrage: »Wollen wir etwa über den Kommunismus debattieren?« Wenn ihn jemand mit Genosse anredete, zog er die Augenbrauen hoch: »Habe ich mich verhört?« Mein Vater ging in der DDR einen eigenen Weg, nicht den eines Widerständlers, aber den eines Menschen mit Abstand zum System, der seine Distanz zum Kommunismus bei Bedarf unmissverständlich kundtat. Neu für uns war, dass er öfter in die Rostocker Klosterkirche ging, wo Pastor Strube predigte, dessen Worten er etwas abgewinnen konnte, weil der Geistliche die Dinge des Glaubens auf ernsthafte und zeitgemäße Weise darstellte.
Im Grunde hatte mein Vater zu sich selbst gefunden und vertraute den Werten, von denen er bis dahin nur vermutet hatte, dass sie wichtig seien, in ganz anderer Tiefe. Es gab Gott, Anstand, Gerechtigkeit und Wahrheit. Mein Vater mag autoritär gewesen sein, Tendenzen zu einer übertriebenen Selbstsicherheit gehabt haben, aber in diesen Grundsatzfragen war er ohne jede Koketterie. Dass eine solche Haltung unter Umständen den Blick trübt dafür, dass auch im Lager der Unterdrücker einige Menschen standen, die Achtung verdienten, dass es auch Kommunisten gegeben hat, die für ihre Überzeugung gelitten haben, das musste er sich erst mühsam erarbeiten.
Im Rückblick ist mir deutlich geworden, dass ein Opfer-Vater dem pubertierenden Sohn die Auseinandersetzung erschwert. Ich kenne das aus Zeugnissen der Kinder von NS-Opfern und Widerständlern, die hingerichtet worden sind. Ich weiß, wie die Heranwachsenden oft zur Anbetung angeleitet und wie Altäre in den Familien errichtet wurden. Ähnlich war es auch bei uns. Wenn mein Vater seine Gedichte vorlas, was meistens bei Geburtstagsfeiern oder an Festtagen geschah, wenn viele zusammensaßen, hörten meine Geschwister und ich mit großer Andacht zu:
Aus meinem Strohsack eine Roggenähre
war gut zu mir, als meine Seele krank …
Jemand, der so wunderbar über ein Kornfeld schreiben konnte, über das Unrecht in der Zelle, der eine ganze Geschichte über eine Roggenähre zu erzählen vermochte, den musste man einfach bewundern.Vor lauter Ergriffenheit konnte ich die Mängel seiner Verse nicht erkennen.
Da mein Vater sich innerlich frei fühlte, war ihm die politische Unfreiheit in der DDR nicht das Wichtigste. Anderes war wichtiger: seine Familie, seine Gärten, seine Ostsee, die Pastorsleute in Wustrow, die ihm ein Dach über dem Kopf boten, das ihm seine Mutter nicht mehr bieten konnte. Man konnte sich zurückziehen mit einem guten Buch - gern auch mit plattdeutschen Texten von Fritz Reuter oder Rudolf Tarnow. Hier sei unsere Heimat, hieß es dann. Sein Stück Heimat war dieser Teil Mecklenburgs und nicht das politische Biotop, in dem er lebte und an dessen Toren »DDR« stand. Das hätte er niemals als Heimat bezeichnet.
Kurze Zeit scheinen unsere Eltern eine Übersiedlung in die Bundesrepublik erwogen zu haben, doch es kam Vaters Seele entgegen, als eine Vorsprache in Hamburg ergab, dass er mit 49 Jahren für westdeutsche Verhältnisse als Lotse zu alt war. Und Lotse wollte er unbedingt sein, nicht schon wieder als Kapitän auf große Fahrt gehen und wochen-und monatelang von der Familie getrennt sein. Erst fand er eine Stelle in Wismar und dann im Stadthafen von Rostock. So blieben wir in der DDR. Vater hatte gute Gründe für diese Entscheidung: »Oma Antonie ist hier, die Großeltern Warremann sind hier, und unsere Freunde in Hamburg können wir jederzeit besuchen, wir können reisen, wohin wir wollen. In Berlin ist ein freier Übergang.«
Gehen oder bleiben
D as Jahr 1955 - was war das für ein Sommer! Ich, der fünfzehnjährige Jugendliche aus der mecklenburgischen Provinz, war mit meinem gleichaltrigen Cousin Gerhard aus Güstrow in Paris. Zwar nur einen Tag lang, aber was machte das schon? Wir eroberten uns die Stadt, von
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