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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Jochen!«
    Er bat sie um die Adresse des Arbeitsplatzes seiner Frau. Als er dort am nächsten Tag mit seinem kleinen Holzkoffer erschien, standen Mutters Kollegen bereits alle auf der Verladerampe.
    Unbefangen kann ein Wiedersehen nach über vier Jahren wohl nicht sein. Meine Schwester Marianne trat dem Mann an der Seite unserer Mutter sehr schüchtern gegenüber. Sie war den beiden entgegengelaufen, hat dann aber auf dem gemeinsamen Heimweg geschwiegen und verlegen auf die Erde geschaut, erzählte sie später. Die Nachbarn hingegen, die im Garten arbeiteten oder sich zufällig auf der Straße befanden, waren gerührt. Der Tischler, der in den Nachkriegsjahren unsere Holzschuhe angefertigt hatte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen: »O Gott, nee! De Jochen iss trüch komen!« So ging es den ganzen Weg entlang.
    Zu Hause bereitete Mutter ihrem Mann erst einmal ein kräftiges Essen zu. Rühreier, zwei, drei, vier, erstmals ohne Beimischung von Milch und Mehl und Wasser, wie wir sie nie gegessen hatten. Wir Kinder standen um den Tisch herum und sahen nicht ohne Neid zu, wie dieser Mann schweigend und konzentriert
genoss, was er in seinem ausgehungerten Zustand doch nur in kleinen Portionen zu sich nehmen konnte. Dann kamen die Großeltern Warremann hinzu, Tante Hilde und Onkel Walter, das ganze Wohnzimmer war voll. Einige Tage später wurde die Rückkehr gefeiert. Mein Cousin Gerhard reiste aus Güstrow an, im Gepäck einen großen Karton mit einem Huhn für das Festessen. Im Zug hatte es aufgeregt geflattert, was ihm höchst peinlich gewesen war.
    Natürlich waren wir alle froh, ein Alptraum war vorbei. Aber nun musste das Ehe-und Familienleben neu geregelt werden. Wir alle hatten uns unter extrem unterschiedlichen Bedingungen verändert; der Kontakt wollte erst wiederhergestellt werden. Meine Mutter hatte sich an ihre Rolle als Familienvorstand gewöhnt. Sie war die Ernährerin und Beschützerin ihrer Kinder geworden und hatte zwangsläufig alle Entscheidungen allein getroffen. Dass sie nun Kompetenzen abgeben konnte, wird sie nicht nur als Erleichterung empfunden haben. Die Rolle der Mutter beherrschte sie perfekt, Ehefrau zu sein, musste sie erst wieder lernen.
    Auch ich war verunsichert. Da der Partner fehlte, mit dem Mutter ernsthaft hatte sprechen können, war ich, obwohl erst vierzehn, fünfzehn Jahre alt, vor der Zeit gefordert worden, war partiell erwachsen, hin und wieder auch in einer unangenehmen Weise frühreif. Nun musste ich ins zweite Glied zurücktreten. Ich wurde nicht mehr zu Rate gezogen, wenn über die jüngeren Geschwister befunden wurde. Ich durfte nicht mehr aufbleiben, wenn die anderen ins Bett mussten. Ich verlor die privilegierte Stellung bei der Mutter und hatte mich plötzlich wieder einem Vater unterzuordnen, der unmissverständlich seine Rolle als Familienoberhaupt beanspruchte.
    Ich hatte großen Respekt vor ihm. Er war abgemagert, gesundheitlich mit einigen Folgeschäden, doch in relativ guter Verfassung. Immer noch machte er etwas her, und vor allem: Er kam nicht als gebrochener oder verunsicherter Mann zurück. Im Gefängnis der sowjetischen Militärverwaltung in Schwerin, so erzählte er später, habe er noch mit seiner Schwäche kämpfen müssen.
Wenn er zu Verhören gerufen wurde, habe er manchmal das Zittern nicht unterdrücken können. Später allerdings ist ihm eine Sicherheit und Festigkeit gewachsen, die er auch gegenüber seiner Umwelt ausstrahlte. Er war wahrscheinlich der Ansicht, dass ihm, der Stalin und den Gulag überlebt hatte, die DDR nichts mehr anhaben könne.
    In seinen Erzählungen über die Haft war er nicht das hilflose Opfer, er sprach nicht mit Groll und Bitterkeit, eher ähnelte er mit seiner Ironie und dem bissigen Humor Nasredin Hodscha, dem islamischen Eulenspiegel, dessen Geschichte er unter den Häftlingen gehört hatte und die er nun zu Hause zum Besten gab:
    Nasredin saß eines Tages auf dem Basar und weinte. Alles Volk kam zu ihm und fragte: »Nasredin, warum weinst du?«
    »Der Kalif hat mich gefragt, wie klug mein Esel sei. Sehr klug, habe ich gesagt. Da hat er mir befohlen, meinem Esel Lesen und Schreiben beizubringen. Wenn mir dies nicht gelänge, würde ich meinen Kopf verlieren.«
    Das Volk hatte Mitleid mit ihm. Doch am nächsten Tag saß Nasredin auf dem Basar und lachte. Alles Volk kam zu ihm und fragte: »Nasredin, warum lachst du?«
    »Ich habe den Kalifen gestern um eine Audienz gebeten und ihm gesagt, dass es sehr schwer sei, meinem

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