Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
stichprobenartig und keineswegs systematisch statt.
Viele DDR-Bürger haben in jenen Jahren die Westbesuche nicht nur zum Einkauf und zum Besuch von Verwandten und Freunden genutzt, sondern einfach so, um den anderen Alltag einzusaugen - im wahrsten Sinne des Wortes. Westluft roch anders als Ostluft. Es gab nicht die Zweitaktmotoren mit den charakteristischen Abgasen, die beim Verbrennen einer Benzin-Öl-Mischung entstehen, und im Winter roch es nicht nach den stark schwefelhaltigen Braunkohlenbriketts aus dem DDR-Tagebau. Statt der Billigzigaretten namens Turf, Salem oder später Cabinet rauchte man HB, Astor oder Peter Stuyvesant. Selbst beim Öffnen der Westpakete schlug uns der besondere Geruch entgegen. Noch heute weiß ich, wie Lux-Seife roch, wie Palmolive und Kaloderma. Es gab Kaffee, der nach Kaffee schmeckte, und es gab Jeans, Petticoats und Nickis. Im Osten hingegen ließ uns die Kleidung wie Jungrentner aussehen.
Im Westen sahen sich die Menschen in den Cafés auch nicht um, bevor sie offen sprachen; die Stimmung war entspannt, die Ungezwungenheit ansteckend. Selbst DDR-Bürger wurden dort gesprächig. Sobald der Interzonenzug die Grenze überquert hatte, löste sich das bange Schweigen im Abteil, man packte Butterstullen und Thermoskannen aus und teilte miteinander. Westen - das
war Aufatmen, Freiheit und für uns Jugendliche vor allem eine Welt schier unbegrenzter Möglichkeiten.
Ich nutzte die Möglichkeiten mehrfach. 1956 habe ich mit meinem Klassenkameraden Frank eine Fahrradtour durch Hamburg und Schleswig-Holstein unternommen. Ostdeutsche Jugendliche erhielten in westdeutschen Jugendherbergen Gutscheine für Übernachtung und Verpflegung. Der Westen hat uns den Aufenthalt praktisch geschenkt. Wir sind auf das Marine-Ehrenmal in Kiel-Laboe gestiegen, das an die gefallenen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs erinnert, wir haben den Nord-Ostsee-Kanal bewundert - wenn Schiffe die Wasserstraße entlangglitten, sah es von Weitem aus, als bewegten sie sich auf einer Wiese. In Hamburg stiegen wir selbstverständlich auf den Michel und machten eine Hafenrundfahrt. Am letzten Abend fragte der Herbergsvater der Jugendherberge »Am Stintfang«: »Jungs, wollt ihr euch nicht auch mal Sylt ansehen?« So haben wir noch zwei Wochen in einem Heim der Gewerkschaftsjugend in List auf Sylt verbracht.
Ich genoss diesen Urlaub, aber mir ist damals nie in den Sinn gekommen, im Westen zu bleiben. Wenn ich immer wieder hinfahren konnte, warum sollte ich dann meinen Wohnort wechseln? Meine Familie lebte in Rostock, in Rostock hatte ich meine Freunde, in Rostock wollte ich die Schule beenden. Ich war schon damals sehr mit Mecklenburg verbunden und wollte auf keinen Fall die Ostsee verlassen. Aber ich ließ mich von Zeit zu Zeit auch gern verführen von der bunten und lauten Welt des Westens. Sie bildete das leichte, leicht machende Gegengewicht zu meiner konfliktreichen Existenz im Osten. Meine Heimat liebte ich seriös, meinen Westen wie eine Geliebte.
Als mein Cousin Gerhard 1958 nach West-Berlin zog, hatte ich »drüben« eine feste Anlaufstelle. Erst wohnte Gerhard in einer völlig heruntergekommenen Wohnung in Schöneberg, in der es außer Matratzen kaum Möbel gab. Dann zog er mit anderen Musikstudenten in die Uhlandstraße. Dort lebten sie mit ihren Freundinnen zusammen. West-Berlin war also nicht nur laut und
wild, sondern auch sündig. Aus der Nachkriegsszene von Frolleins und Amis und der rebellischen Jugend der fünfziger Jahre war eine in der DDR unbekannte, unkonventionelle Lebenswelt hervorgegangen, in der früher als anderswo Wohngemeinschaften entstanden, ohne dass sie damals so genannt worden wären.
Ich bin mehrfach in die Uhlandstraße gefahren. Eben: einfach so. Auf dem nur wenig entfernten Kudamm flanierten schicke Mädchen, am Lehniner Platz standen Halbstarke mit Motorrädern, aus dem Radio röhrte Bill Haleys »Rock around the Clock«. Eine Ost-Berliner Bekannte erhielt eine Eintrittskarte für den Berliner Sportpalast und berichtete später von dem berühmtberüchtigten Auftritt Bill Haleys: Das Publikum geriet in Ekstase, schrie, tanzte, trampelte und zerstörte schließlich die gesamte Bestuhlung. Wir gingen auch viel ins Kino. Der Typ des einsamen, rebellischen Außenseiters hatte Konjunktur, des young angry man, wie ihn James Dean oder Jean-Paul Belmondo verkörperten. Wer nachweisen konnte, dass er im Osten lebte, konnte Eintrittskarten mit Ostgeld zahlen - manche legten zur
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