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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Legitimierung einfach ihren Pionier-oder FDJ-Ausweis vor. Wir besuchten Jazz-Kneipen wie die »Eierschale«, und selbstverständlich liebten wir alle Elvis Presley, den King of Rock’n’ Roll. Man konnte seine Platten kaufen und »Heartbreak Hotel« oder »Love me tender« hören, so oft man wollte.
    Als ich dann als Student nach West-Berlin fuhr, war der Existentialismus en vogue. Wir lasen Bücher von großen, bewegenden und prägenden Geistern wie Jean-Paul Sartre und Albert Camus, von Karl Jaspers und Martin Heidegger. Außerdem zog mich das Milieu in der Wohngemeinschaft meines Cousins an. Gerhards Freundin Jutta war eine dunkelhaarige, eher zarte Frau, auf eine unaufgeregte und etwas dunkle Weise verführerisch - jedenfalls für den jungen Theologiestudenten aus der Provinz. Wäre ich damals nicht bereits in festen Händen gewesen, hätte diese Mischung aus weltläufigem Laissez-faire, geistiger Freiheit und einer gewissen Libertinage eine Versuchung darstellen können. Für mich verkörperte Jutta den existentialistischen Prototyp: schwarz
gekleidet, oft mit Rollkragenpullover, zwar Studentin, aber selten an der Universität, dafür in Cafés, Bars und Jazzkellern, ständig mit einer Zigarette im Mund und einem Whiskyglas in der Hand, mit Ringen unter den Augen und dem Ausdruck von Weltschmerz im Gesicht.
    Jutta war, wie sich später herausstellte, die Schwägerin des Schriftstellers Uwe Johnson. Er hatte ihre Schwester Elisabeth im mecklenburgischen Güstrow kennen gelernt, seinem Wohnort nach der Flucht bei Kriegsende aus dem pommerschen Anklam, und seit 1962 mit ihr in West-Berlin gelebt. Dank der Verbindung zu Jutta habe ich wohl als einer der ersten Ostdeutschen die »Mutmaßungen über Jakob« gelesen, Johnsons erstes Buch, das ihn auf einen Schlag berühmt machte, weil er einen ganz eigenen Zugang und eine ganz eigene Sprache über die DDR und den Ost-West-Konflikt entwickelt hatte.
    Jutta erschien mir immer als besonders souverän und auf eine selbstbestimmte Weise mondän. Hinterher stellte sich heraus, dass sie wohl eher ein hilfloses Kind war, fremd in West-Berlin, ohne Freunde, zu denen sie hätte gehen können. Ihr tragisches Ende kenne ich nur aus den Schilderungen meines Cousins, der sich nach einiger Zeit von ihr trennte, aber den Kontakt hielt. Ich selbst habe sie nach dem Mauerbau nicht mehr gesehen.
    Jutta wurde labil und zeigte sich den Realitäten immer weniger gewachsen. Sie magerte ab, nahm aber keinerlei Hilfe an, die ihr von verschiedener Seite angeboten wurde. Eines Nachts im Jahre 1968 ist sie mit einer Zigarette im Mund eingeschlafen, in der Berliner Wohnung von Uwe Johnson, die sie einhütete, während der inzwischen viel gefragte Schriftsteller mit seiner Frau in New York lebte. Es entstand ein Schwelbrand, in der Etage darunter zeichneten sich tags darauf die Umrisse des verglommenen Betts an der Decke ab. Jutta hatte wohl noch versucht, aus der Wohnung herauszukommen, und einige Kleider aus dem Schrank gerissen, um sich anzuziehen und auf die Straße zu fliehen. An der Tür war sie jedoch zusammengebrochen. Es hatte etwas Mystisches, Unheimliches, dass Ingeborg Bachmann, deren abgelegte,
elegante CourrègeKleider Jutta geschenkt bekam und zu tragen liebte, fünf Jahre später auf fast identische Weise starb.
    Johnson und seine Frau kamen zur Beerdigung aus New York; Bischof Scharf, der Jutta schon früher gekannt hatte, hielt die Predigt. Anschließend, so erzählte mein Cousin Gerhard, hatten Juttas Freunde in den Uhland-Stuben ein Besäufnis veranstaltet, das Johnson bezahlt, selbst aber nach kurzer Zeit verlassen habe, weil ihn der Trubel und die verrückten Möchtegern-Bohemiens abstießen.
    Mich hat Juttas tragisches Ende sehr bewegt. Sie hatte die Freiheit zu ihrer Sache gemacht und dabei die Orientierung verloren. Das war unendlich traurig und eine von gar nicht so wenigen Geschichten, in denen unstillbare Sehnsucht Menschen in den Westen trieb, in dessen Freiheit sie sich dann nicht erden konnten.
    Im Sommer 1961, kurz vor dem Mauerbau, war ich noch zwei Mal in Berlin. Das erste Mal Mitte Juli anlässlich des zehnten Evangelischen Kirchentages. Wenige Tage vor der Eröffnung hatte das SED-Politbüro die Veranstaltungen im Ostteil der Stadt verboten und private Busunternehmen in der DDR angewiesen, keine Fahrten zum Kirchentag durchzuführen. Es gelte, hieß es, DDR-Bürger vor »Provokationen des kalten Krieges« und vor Belästigungen durch »Spionageagenturen« zu

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