Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
der andere nur träumten, und sahen: die Champs-Élysées, den Arc de Triomphe, den Invalidendom, Notre-Dame, den Eiffelturm, die Oper, den Jardin du Luxembourg, wir fuhren mit der Metro, liefen wie betäubt durch das Théâtre National Populaire im Palais de Chaillot, wo der sagenhafte Gerard Philippe spielte, standen in den Markthallen ungläubig vor der überbordenden Fülle von Blumen, Fischen, Obst-und Gemüsesorten, die wir teilweise nicht einmal dem Namen nach kannten. Und wir kicherten haltlos, als wir am Zeitungs kiosk fast barbusige Frauen auf den Titelseiten der Illustrierten sahen und überall auf Paare stießen, die sich ungeniert auf offener Straße küssten. Was für eine Welt! Wir tranken Coca-Cola (belegte Brote hatten wir uns mitgebracht), kauften teure, überlange Postkarten und schrieben an alle Verwandten und Bekannten in der DDR Urlaubsgrüße aus der Metropole Paris.
Abends um acht Uhr suchten wir an den Hallen jedoch vergebens nach den Lkw-Fahrern, die uns in der Nacht zuvor aus Saarbrücken mitgenommen hatten. Sie hatten uns versetzt. Offensichtlich wollten sie nicht noch einmal stundenlang mit Jugendlichen streiten, die ihre Begeisterung über die DDR nicht teilten. Sie hätten selbst sehen können, hatten uns diese saarländischen Fahrer mit strahlenden Augen erklärt, welch große Rolle die Arbeiter und Bauern in den sozialistischen Betrieben und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften unseres Landes spielten, wie der Aufbau des Sozialismus in der DDR voranschreite. Als mein Cousin und ich protestiert, vom 17. Juni und von meinem
Vater in Sibirien erzählt hatten, waren wir auf Schweigen gestoßen, und schließlich war die Bemerkung gefallen: »Ohne Grund wird man deinen Alten schon nicht verhaftet haben.« Ich gestehe, dass wir ein Gefühl der Genugtuung nicht unterdrücken konnten, als wir, hilfsbereit von anderen Fahrern mitgenommen, im Morgengrauen in der Nähe von Metz an »unserem« Fleischtransporter vorüberfuhren: Mit einer Reifenpanne lagen die kommunistischen Fahrer am Straßenrand.
Saarbrücken war unser Stützpunkt in jenem Sommer. Gerhard machte Ferien bei seiner Großmutter väterlicherseits, ich bei einem mir bis dahin völlig unbekannten Tierarzt. Eine ehemalige Lehrerin meiner Mutter, die unserer Familie während der Abwesenheit des Vaters etwas Gutes tun wollte, hatte mich dorthin vermittelt. Zwar konnte mich der Tierarzt, der den »Bub aus der Ostzone« gern aufgenommen hatte, für seinen Beruf nicht begeistern, doch seine Einführung in die saarländische Politik war faszinierend. Im Saarland herrschte damals große Aufregung. Für Oktober 1955 war eine Volksabstimmung geplant: Sollte das Saarland weiter eine autonome Region mit wirtschaftlichem Anschluss an Frankreich bleiben, oder sollte es sich der Bundesrepublik eingliedern? Zum ersten Mal konnten sich deutsche Parteien präsentieren, die für Deutschland optierten, ohne dass die Polizei einschritt. Mein Gastgeber schleppte mich in verschiedene Parteiveranstaltungen: »Da gehst du hin, Bub, da siehst du, wie Demokratie gemacht wird!«
Ich war begeistert von der Offenheit und der Verve, mit der die Bürger ihre Standpunkte vertraten. Außerdem hatte dieser Konflikt auch mit mir zu tun. Auch wir Ostdeutschen gehörten schließlich zu dem Deutschland, dem sich das Saarland 1935 schon einmal mit großer Mehrheit angeschlossen hatte.
Nach den Ferien kehrte ich verändert in die Schule zurück. Alles hatte sich relativiert. Wochenlang stand ich den Fahnenappellen, den bornierten FDJ-Funktionären und Staatsbürgerkundelehrern und ihren Themen mit einer gelassenen Distanz gegenüber. Ich fühlte mich überlegen, ließ die kleinkarierte Welt an mir
abperlen. Ein Westbesuch hatte Tore geöffnet, geographisch und mental.
In jenen Jahren war es nicht schwierig, in den Westen zu reisen. Man ging zur Volkspolizei, tauschte den Personalausweis gegen einen Behelfsausweis und stieg in einen der Interzonenzüge, die nach Hamburg, Frankfurt am Main, Köln und München fuhren. Wer es einfacher haben wollte, fuhr nach Ost-Berlin, setzte sich in die S-oder U-Bahn und erreichte für zwanzig Pfennig Ost den Westteil der Stadt. Im Bahnhof Friedrichstraße und den anderen Übergangsbahnhöfen patrouillierten zwar Volkspolizisten und Zöllner, die sowohl nach Ostdeutschen fahndeten, die mit Waren aus dem Westen kamen, als auch Westdeutsche aufstöberten, die im Osten billig eingekauft hatten. Aber Kontrollen fanden nur
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