Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
so war einem nach dem Mauerbau diese Kompensation verwehrt. Wir konnten uns nicht einmal mehr tage-, geschweige denn wochenlang entziehen. Die Reisefreiheit hatte für ein völlig anderes Klima an den Schulen, Universitäten, in den Freundeskreisen und in den Betrieben gesorgt, war ein wichiges Thema in privaten Gesprächen, ja durch sie hatte sich sogar eine merkwürdige Parallelwelt neben unserem Alltag herausgebildet. All das haben sich die nach 1961 in der DDR Geborenen nicht mehr vorstellen können.
Nach dem 13. August 1961 konnte man der DDR nicht mehr durch das Schlupfloch Berlin entkommen, konnte nicht mehr hier und gleichzeitig dort sein. Wir durften nicht einmal zur Beerdigung fahren, wenn jemand starb. Es gab keinerlei Begegnung mehr. Gespräche über die wenigen Privattelefone mussten beim Fernamt angemeldet werden, halbe Tage warteten wir auf die Verbindung, oft kam sie gar nicht zustande.
Der Mauerbau ist oft als die eigentliche Geburtsstunde der DDR bezeichnet worden. Vom 13. August 1961 an gehörte man dazu - auf immer und ewig. Nicht die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949, sondern der Mauerbau am 13. August 1961 sollte Haltung und Mentalität der Menschen im Land besonders nachhaltig prägen: Aus objektiver Machtlosigkeit, die der übermächtige Staatsapparat über die Bevölkerung verhängt hatte, wurde nun auch subjektive Ohnmacht. Und da man den Menschen die institutionellen Möglichkeiten einer Partizipation an der Macht nahm, verloren sie allmählich die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln.
Wer nach dem August’61 über die Grenze kam, war ein Flüchtling, wie Uwe Johnson ihn verstanden hat. Man konnte das Land nur noch »unter gefährlicher Bedrohung« verlassen. In Berlin sprangen Menschen aus hochgelegenen Stockwerken, brachen mit Lastwagen durch die Sperranlagen, durchschwammen den Teltowkanal, die Havel, die Spree oder den Humboldthafen, bei uns setzten sie sich über die Ostsee ab oder versuchten es zumindest. Ein Lokomotivführer raste mit einem Personenzug durch die Sperranlage, andere überquerten die Grenzstellen mit gefälschten ausländischen Dokumenten. Bis zum Ende des Jahres 1961 bezahlten dreizehn Menschen ihren Fluchtversuch mit dem Leben, über dreitausend wurden bei gescheiterten Fluchtversuchen festgenommen. Die Zahl der politisch Verfolgten stieg in der zweiten Jahreshälfte 1961 um das Fünffache auf 7200.
Der Westen hatte sich verlagert. Die eine Hälfte des Westens war dort, wo wir nicht mehr sein konnten, die andere Hälfte war in denen, die ihn noch kennen und schätzen gelernt hatten. Wir
hatten uns dort zu Hause gefühlt, auch wenn wir nur zu Besuch waren. Von nun an gab es zwei Arten von Westdeutschland: das reale, das sich fortan Tag für Tag in eine uns unbekannte Richtung verwandelte, und das ersehnte, das im Innern jener Ostdeutschen lebte, die niemals von ihm lassen wollten.
So nistete sich die Sehnsucht in unseren Herzen ein. Der Westen war wie eine Frau, die man als Siebzehnjähriger auf den Sockel hebt und anbetet. Da können Jahrzehnte oder Jahrhunderte vergehen, ihre Schönheit bleibt erhalten. Die Runzeln und Abgründe, die Mängel und Beschneidungen von Freiheit haben viele von uns nicht oder nur wie durch einen Schleier gesehen. Wir haben idealisiert, was wir nicht besaßen.
Etwa zehn Jahre nach dem Mauerbau begann ich, gelegentlich vom Westen zu träumen. Und was ich anderen erzählte, erzählten diese mir: »Weißt du, heute Nacht war ich im Westen.« Ein immer wiederkehrendes Motiv dieser Träume war das Gefühl der totalen Erleichterung und Entlastung. Als hätten die DDR-Grenzer ihre Kontrollen gerade beendet, der Zug sei wieder angefahren und wir hätten an den Häusern und Autos erkannt, dass wir in der Freiheit waren. Dann begannen wir uns im Traum anzulächeln und zu erzählen und machten die beglückende Erfahrung: Du fühlst dich wohl hier im Westen. Du kannst die Musik hören, die du magst, die Bücher und Zeitungen kaufen, die du schätzt, du kannst nach Rom und nach London und nach Kopenhagen fahren, in Hamburg zum Jungfernstieg und auf die Reeperbahn gehen, den Kölner Dom besuchen und in den Alpen wandern.
Unser Bild vom Westen wich sehr stark ab von dem Westen, den die Menschen dort tatsächlich erlebten. Wenn sie uns besuchten, haben wir oft protestiert, wenn sie - falls sie Achtundsechziger und Linke geworden waren - hauptsächlich von den Mängeln ihrer Gesellschaft erzählten. Es kam zu heftigen Kontroversen, in
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