Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
sein. Und: Wir hätten doch keine Wohnung, ob wir nicht ihre Wohnung übernehmen wollten?
Uns durchfuhr ein beglückender Schreck. Zwei Zimmer, Küche, Bad, fließendes Wasser, ein eingebauter Kleiderschrank, es roch nach Westen, es war Westen. Wir hingegen lebten als Ehepaar mit Kind im Souterrain des Hauses von Oma Warremann in einem Zimmer. Noch dazu illegal. Damals konnte man in der DDR nicht einfach eine Wohnung beziehen. Nach den schweren Zerstörungen im Krieg gab es viele Ruinen und sehr viele
Flüchtlinge, später permanent zu wenig Wohnraum. In den Wohnungsämtern lagen lange Listen von Wohnungssuchenden, junge Familien warteten in der Regel zehn Jahre auf eine Zuteilung, Alleinstehende konnten höchstens irgendwo zur Untermiete wohnen, und selbst dann mussten sie nachweisen, dass ein Betrieb sie anforderte. Meine Frau und ich hatten überhaupt keine Chance auf eine eigene Wohnung, als wir nach der Hochzeit auf dem Wohnungsamt vorsprachen.
»So jung und schon verheiratet?«
Wir hatten mit neunzehn geheiratet.
»Wo wohnen Sie denn jetzt?«
Jeder lebte bei seinen Eltern.
»Da wohnen Sie ja gut, wo liegt denn das Problem?«
Wir hatten aber ein Problem, denn wir konnten uns nicht vorstellen, bei meinen Eltern zu leben, die diese Heirat missbilligt hatten. Auch meine Eltern konnten sich das nicht vorstellen. Da setzte sich im Sommer 1960 der Untermieter von Oma Warremann, Ingenieur eines Rostocker Großbetriebs, von einem Tag auf den anderen in den Westen ab. Ohne das Wohnungsamt zu konsultieren, zogen wir in das frei gewordene Zimmer. Es war nicht groß, lag im Keller und hatte ein Fenster, das nur zur Hälfte über der Erde lag, kein Bad, nur ein Waschbecken. Angesichts der Verhältnisse in der DDR erschien es uns viel, angesichts der Verlockung in West-Berlin war es erbärmlich.
Unsere Ehe hatte sich aus einer Schülerliebe heraus entwickelt. Es gab ein Klassenfest mit ersten schüchternen Freundlichkeiten, unendlich vorsichtig und fragend. Ich war extrovertiert, frech, oppositionell, häufig lernunwillig und faul. Ich mochte das Leben, war voller Erwartungen - an die Mädchen, die Dichter, die Politik. Sie war introvertiert, schüchtern, ängstlich, mochte nicht auffallen, war diszipliniert und fleißig. Sie misstraute dem Leben.
Es war die Liebe zur Literatur, die uns verband und dann zu einem Paar machte. Ich mochte Hermann Hesse, Heinrich Böll, Ernest Hemingway und las ihr Rainer Maria Rilke »Die Weise
von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« in meiner Dachkammer vor. Meine Freundin kannte viele Gedichte, liebte das Theater, ihr verdankte ich einen neuen Zugang zu Thomas Mann wie zu Bert Brecht, dem ich tief misstraut hatte, weil ihm meine Unterdrücker ein Theater geschenkt hatten und uns sein mediokres Poem »Die Erziehung der Hirse« als Pflichtlektüre aufgezwungen worden war. Sie lehrte mich, nicht nur das Politische seiner Werke zu sehen, sondern seine Gedichte, zart und zynisch, sanft und provokativ. Ich verlor mich in die Worte.
Meine Frau Hansi, ein Flüchtlingsmädchen aus Ostpreußen. Wir gingen in dieselbe Klasse; sie fiel mir erstmals auf, als die langen Zöpfe, ein Tribut an den Geschmack der Vorkriegszeit, gefallen waren.
Wir würden glücklich sein, denn - so schrieb ich ihr mit einem Dichterwort:
Du bist für mich, ich bin für dich erwählt
Wie Reim und Reim im atmenden Gedicht.
Und eins ist nichts, wenn ihm das Andere fehlt …
Wir waren arm und reich, denn wir beschenkten uns beständig mit Zutrauen, Zärtlichkeit und schließlich einer großen romantischen Liebe. Abweisende Eltern, widrige Verhältnisse, all das bedrohliche Außen war nichts gegen das, was wir füreinander waren. Und doch: Tante Lisas Wohnung war so verführerisch. In unseren Köpfen überschlugen sich die Fantasien. Wir lächelten geschmeichelt, hin und her gerissen von der Versuchung, und wir sahen uns an, und wir sagten: »Nein.«
Ein Jahr zuvor hatte ich mich in einem Restaurant am West-Berliner Steinplatz mit zwei geflüchteten Kommilitonen von der Rostocker Fakultät getroffen. Ich sagte ihnen, ihre Flucht sei bei den Kommilitonen nicht gut aufgenommen worden, denn nun werde es zwei Pastoren weniger in der DDR geben. Einige hätten sogar gemutmaßt, es sei ihnen gar nicht um die Freiheit, sondern um ein besseres Leben gegangen. Und durfte man irgendwo hingehen, nur weil es »besser« war? Ich war nicht neidisch auf die beiden gewesen, fühlte mich ihnen eher überlegen, weil sie es
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