Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
die Fenster sahen wir die Züge an den Bahnsteigen stehen. Eines Tages erklärte mein Freund Helge Richter, der ein noch größeres Mundwerk hatte als ich und der aus einer Arztfamilie stammte, der es blendend ging, ihm reiche es, er wolle die bevorstehende Lateinarbeit nicht mehr mitschreiben. Sagte es und ging. Ich simulierte im Unterricht eine spontane Übelkeit und bat darum, von meinem Freund Christian Gätjen an die frische Luft begleitet zu werden.
Wir erwischten Helge noch auf dem Bahnsteig. Ohne Koffer, ohne Gepäck, ohne die Eltern zu benachrichtigen, stieg er in den Zug, während wir zurückkehrten, um die Klassenarbeit zu schreiben. Eine Woche später kam eine Postkarte: »Hallo Jungs, bin gut angekommen, war im Kino: Elvis Presley ›Rhythmus hinter Gittern‹.« Was sollte an einem solchen Wohnortwechsel tragisch sein?
»Republikflucht« war vor 1961 ein Massenphänomen. Aus manchen Abiturklassen ging Ende der fünfziger Jahre die Mehrheit der Schüler, bei vielen war die Entscheidung vorhersehbar. Zum Jurastudium beispielsweise wurden nur überzeugte Kommunisten zugelassen. Wenn jemand Apotheker oder Arzt werden wollte, selbst aber aus einer Apotheker-oder Arztfamilie stammte, hatte er kaum Chancen, zur Universität delegiert zu werden. Bevorzugt wurden Arbeiterkinder - darunter fielen allerdings auch die Kinder von Funktionären. Wer beispielsweise einen General der Volksarmee zum Vater hatte, galt ebenso als Arbeiterkind wie das Kind eines SED-Funktionärs. Hatte der Vater sich aber vom Schlosser zum Diplomingenieur hochgearbeitet, dann galt er als Intelligenzler-Kind.
Mein Klassenkamerad Frank Segelitz war der Sohn eines Privatunternehmers, denn sein Vater besaß eine Apotheke. Die Schule hat Frank noch problemlos absolviert, nicht zuletzt weil er in die FDJ eingetreten war, obwohl er eher westlich eingestellt war. Für die weitere Zukunft rechnete er sich aber kaum berufliche Chancen aus. Also ging er und wurde im Westen Jurist. Man konnte es ihm nicht verübeln.
Aufsehen erregte allerdings der Weggang unseres Klassenlehrers, weil er Mitglied der SED war. Doch die Parteizugehörigkeit hatte offensichtlich der Tarnung gedient. Nach der Flucht wurde er als »Zentrum einer konterrevolutionären Gruppierung« unter den Lehrern ausgemacht und in der Zeitung denunziert. Unsere Goethe-Oberschule wurde mit der Großen Stadtschule zusammengelegt, und ein linientreuer SED-Pädagoge übernahm die Leitung der vergrößerten Lehranstalt. Die Verschärfung der pädagogisch-ideologischen Zucht, die daraufhin begann, traf uns glücklicherweise nicht mehr.
Die einen feierten den Bau der Mauer als Triumph: Die Massenflucht war gestoppt. Die DDR würde nicht weiter ausbluten, sondern eine Chance erhalten, ohne permanente »Abwerbung« ihr eigenes Gesellschaftssystem zu errichten. Andere, die meisten, waren bestürzt, erschrocken und wütend über die Anmaßung der
herrschenden Clique, die ein ganzes Staatsvolk kurzerhand zu Leibeigenen erklärte.
Die Parteiführung riss die Familien auseinander, unterband die Reisefreiheit und jeglichen Austausch und war auch noch so töricht, die Mauer zum »antifaschistischen Schutzwall« zu erklären. Dabei war selbst den Genossen klar, dass die DDR sich nicht, wie von der Propaganda behauptet, vor einer imperialistischen Aggression geschützt hatte, sondern dass sie den Staat von ihren Gnaden vor dem Ausbluten zu bewahren trachtete.
Der Westen verschwand hinter dem Eisernen Vorhang. Es traf Verliebte, Verlobte, Eheleute, Kinder und Eltern, Brüder und Schwestern.Viele Menschen verloren ihre Existenzgrundlage. Die Berliner »Grenzgänger«, die im Westen gearbeitet und im Osten gewohnt hatten, durften als unsichere Elemente fortan im Osten nicht in Schlüsselfunktionen gelangen oder in wichtigen Betriebsanlagen arbeiten. Lehrer, die auf Westschulen unterrichtet hatten, erhielten im Osten lebenslanges Berufsverbot. Studenten, die in West-Berlin studiert hatten, wurden in die Produktion geschickt. Schüler, die im Westen zur Schule gegangen waren, durften die Ausbildung nicht beenden und mussten eine Lehre beginnen.
Unser Staat war seit 1961 wie eine Burg, deren Burgherr sich das Recht genommen hatte, über Zugang, Abgang und über den Gang des Lebens im Innern zu entscheiden. Hatte man sich mit dem ideologischen Druck und den Repressionen in der DDR noch leichter abgefunden, solange man von Zeit zu Zeit »nach drüben« fahren oder Besucher aus dem Westen empfangen konnte,
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