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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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denen wir DDR-Bürger den Westlern den Westen erklärten und sie uns den Sozialismus. Jede Seite hatte ihre innere Wirklichkeit und manchmal auch Wahrhaftigkeit.
    Wir haben uns über jeden Besuch, jeden Brief und jedes Geschenk
aus dem Westen in einer Weise gefreut, die der gesättigten Gesellschaft unserer Brüder und Schwestern unbegreiflich war. Abgeschottet, hinter der Mauer lebend, brauchten wir diese Zuwendung als Zeichen, dass wir nicht vergessen waren, dass wir irgendwie dennoch dazugehörten. Manchmal nahm diese Überhöhung des Westens groteske Formen an. Beispielsweise hielten zahlreiche Urlauber am Ostseestrand Ausschau nach Strandgut. Vielleicht wurde eine Flasche angeschwemmt mit dem Etikett von Bols oder einer anderen bekannten Westmarke. Ich fand diese Flaschen später, fein gesäubert, in Dutzenden von Haushalten auf Wohnzimmerschränken oder Flurregalen - Trophäen mit Signalcharakter, die demonstrierten: Der Staat hat mich, aber er hat mich nicht ganz. So wurden leere Flaschen, Blechdosen, Plastiktüten aus dem Westen (die in den Schulen verboten waren!), Jeans oder T-Shirts zum trotzigen Zeichen von Eigenständigkeit.
    Trauer als Kehrseite der Sehnsucht war mir damals so wenig bewusst wie wohl den meisten DDR-Bürgern. Sie hätte mich gelähmt, so schickte ich sie weg. »Stör mich nicht«, sagte ich, »ich will leben, ich will stark sein.« Viele hielten sich an das bekannte Volkslied: Sie glaubten, dass sie, selbst wenn sie eingesperrt seien »in finstere Kerker«, wenigstens in ihren Gedanken frei bleiben und die Mauern und Schranken einreißen könnten.
    Dass sogar meine Gedanken vom Kerkeralltag infiziert waren und ich mich wohl mit einer halb resignativen Weltsicht arrangiert hatte, habe ich in vollem Ausmaß erst verstanden und gefühlt, als ich den Kerker verlassen hatte. Während der DDR-Zeit war ich zwar oft wütend über Unrecht, Diskriminierung und ideologische Borniertheit, andererseits aber unempfindlich gegen die allgegenwärtigen Demütigungen im Alltag. Etwa an jenem Nachmittag Anfang der achtziger Jahre, als drei schwedische Frauen, sehr solidarische, liebenswürdige und aufgeweckte Lehrerinnen, die wir durch kirchliche Kontakte kennen gelernt hatten, mit uns den Rostocker Intershop aufsuchten, um unserer vierjährigen Tochter ein besonderes Geschenk zu machen, eines, das nur gegen Westgeld zu haben war. Der Intershop war das Ausland im Inland, der
Westen im Osten, ein quasi exterritorialer Ort voller begehrter Produkte aus der freien Welt. Zeitweilig durften Ostdeutsche gar nicht hinein, zeitweilig mussten sie ihr Westgeld gegen so genannte Forumschecks eintauschen, die vom Staat ungünstig 1:1 eingetauscht wurden. Jedenfalls besuchten wir mit den schwedischen Damen den Intershop, während jene, die kein Westgeld hatten, sich die Nase platt drückten an den Scheiben, hinter denen die unerreichbare bunte Warenwelt lag. Während unsere Kleine den Laden glückstrahlend mit ihren Geschenken verließ, traten zwei der Schwedinnen Tränen in die Augen.
    »Warum weint ihr?«
    Sie weinten, weil sie ein Spiel mitspielen mussten, in dem die einen besser waren als die anderen, in dem ihr Geld alles und unseres nichts bedeutete, in dem ein Kind größte Freude empfand über Spielsachen, die den Schwedinnen mittelmäßig und armselig erschienen. Sie weinten, weil ihnen fernab von Mauer, Wachturm und Gefängnis die Klassen-und Unterdrückungsstruktur der DDR noch in einer ganz banalen Situation begegnet waren. Ein Einkauf unter solchen Bedingungen erschien ihnen unwürdig und erniedrigend - und wir taten ihnen leid.
    Und ich? Ich fühlte mich in kämpferischer Mission und begann, sie meinerseits zu trösten, denn wir, das versicherte ich ihnen, bräuchten keinen Trost. Wir seien an derartige Situationen längst gewöhnt, seien nicht mehr zu kränken oder zu demütigen. Ich war stolz auf meine Haltung, die mich vor Depressionen, Alkoholsucht und Selbstmordgelüsten schützte. Statt mich durch Selbstmitleid oder Trauer schwächen zu lassen, setzte ich auf Provokation, blies zum Gegenangriff, um in die Vorhand zu kommen.
    Ich kritisierte andere, wenn sie in beschwörender Weise ihr Leben in ihren kleinen, privaten Nischen als großes Glück beschworen und die Beschränkung als Erfüllung ausgaben. Dabei hatte ich mich selbst längst mit dem kleinen Glück abgefunden, als ich den Schwedinnen die Steilküste am Ostseeufer zwischen Wustrow und Ahrenshoop zeigte und behauptete, dies sei einer der

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