Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
ihres eigenen Hauses. Da setzte sich Vater Zeeck nach Hamburg ab und ließ sich zum Steuerberater umschulen. Der Großteil der Zeeckschen Möbel und Bilder wurde unter Bekannten und Verwandten verteilt, meine kleine Schwester Sabine führte überall stolz den Puppenwagen vor, den sie - was sie nicht ahnen konnte - von ihren künftigen Schwiegereltern erhalten hatte.
In jenem Sommer 1965 verliebte sich Sabine in Jochen Zeeck, im Frühherbst bemerkte sie ihre Schwangerschaft. Für meine Eltern war es ein Schock. Sie wünschten sich für die Tochter einen Hochschulabschluss. Am schlimmsten aber war für sie die Vorstellung von einem unehelichen Enkel.
Sabine war überrascht und ratlos, wusste nur, dass sie ihr Kind nicht, wie es üblich war in der DDR, morgens um sechs Uhr würde in die Krippe bringen wollen. Da ließ sie geschehen, was unsere tatkräftige Mutter, nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte, für sie in die Wege leitete. Über ihren Schwager Gerhard, den Mann von Tante Gerda, der inzwischen eneralsuperintendent
von Ost-Berlin geworden war, schaffte sie es, die Tochter auf die Ausreiseliste der Evangelischen Kirche setzen zu lassen. Auch wenn gar nicht klar war, ob Sabine und Jochen Zeeck zueinander passen würden: Das Kind sollte nicht unehelich zur Welt kommen! Der erste Ausreise-Antrag vom Oktober 1965 wurde abgelehnt: Einen aufstrebenden jungen Menschen wie Sabine werde man nicht ins Feindesland ziehen lassen. Im Rahmen der kirchlichen Verhandlungen setzte sich Onkel Gerhard jedoch weiter für seine Nichte ein. Mitte April 1966 erhielt Sabine einen positiven Bescheid, Anfang Mai reiste sie aus.
Sabine hatte Glück dank außergewöhnlicher Unterstützung. Andere warteten vergeblich auf eine Ausreisegenehmigung. So brach eine Hebamme in der Mütterberatungsstelle der Charité in Ost-Berlin in Tränen aus, als Sabine kam, um sich ihre Unterlagen vor der Ausreise zu holen. Seit fünf Jahren schon bemühte sich diese Frau vergeblich um die Übersiedlung in den Westen. Ihr Mann und ihre Kinder waren vorgefahren, um Wohnung und Arbeit in Nordrhein-Westfalen zu suchen, sie selber wollte folgen. Der Mauerbau durchkreuzte die Pläne. Seitdem war ihre Familie genauso auseinandergerissen wie die der Hebamme im Krankenhaus Hamburg-Rissen, wo sich Sabine nach der Ausreise zur Aufnahmeuntersuchung meldete. Auch diese Frau brach in Tränen aus. Hier war sie es, die aus Rügen vorgefahren war, um die Übersiedlung von Mann und Kindern vorzubereiten. Inzwischen hatte sich ihr Mann scheiden lassen, und das Sorgerecht für die Kinder war ihr entzogen worden.
Es gab Tausende solcher Fälle. Tausende drängten auf Ausreise, Menschen, die das Land ursprünglich gar nicht hatten verlassen wollen, dann aber in der Enge des Systems zu ersticken glaubten. Zu ihnen gehörte Sibylle Hammer, eine alte Freundin unserer Familie, die Patentante meiner 1967 geborenen Tochter Gesine. Sibylle hatte mit meiner Schwester Sabine an der Rostocker Sportschule Abitur gemacht, danach Germanistik und Anglistik studiert und war Lehrerin an einer Schule in Berlin-Friedrichshain geworden, wo ihr in der Arbeit mit Schülern aus schwierigen
Elternhäusern relativ viel Freiheit gelassen wurde. Aus privaten Gründen wechselte sie 1975 an die 50. Polytechnische Oberschule (POS) in Rostock-Evershagen, in meine Gemeinde.
SIBYLLE HAMMER ERZÄHLT
Ich hatte mich in den sechs Jahren an der Schule in Ost-Berlin an meinen kleinen Freiraum gewöhnt, so dass mich die Verhältnisse in der Maxim-Gorki-Schule, der 50. POS in Rostock-Evershagen, unvorbereitet und hart trafen. Die Repressionen mochten, jede für sich genommen, banal erscheinen, aber in ihrer Gesamtheit empfand ich sie als unerträglich. Es begann mit den Stiefeln. Noch Jahre, nachdem das Neubauviertel bezogen worden war, konnte man nur über Bretter von der S-Bahn zur Schule gelangen. Während alle anderen ihre verdreckten Schuhe in der Schule wechselten, trug ich drinnen wie draußen Lederstiefel aus einem Rostocker Jägergeschäft, die aussahen wie die Stiefel der Wachsoldaten vom Roten Platz. Ich dachte: Wenn der Dreck so auffällig an den Stiefeln klebt, wird vielleicht schneller ein Bürgersteig gebaut. Außerdem fand ich die Lederstiefel chic zu dem Seidenrock, den ich mir hatte nähen lassen - irgendetwas Auffälliges musste sein. Aber der Schuldirektor beanstandete die Stiefel, ich sollte normale Schuhe mitbringen, was ich nicht tat.
Dann kam heraus, dass ich Joachim Gaucks Kinder
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