Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
schönsten Spazierwege Europas. Wahrscheinlich tat ich ihnen da
noch einmal leid, als ich so strahlend und stolz vor ihnen stand und den unverwechselbaren Geruch und den Geschmack der See rühmte. Wäre ich ein Sachse gewesen, hätte ich wohl ähnlich stolz das Elbsandsteingebirge gepriesen und als Brandenburger Schloss und Park Sanssouci in Potsdam. All das erschien uns über die Maßen schön, denn uns fehlte jeder Vergleich. Weder hatten wir die Fjorde Norwegens gesehen noch die griechische Mittelmeerküste, wir waren nicht die Rhône hinabgefahren, hatten nicht auf den Klippen von Dover gestanden und nie den Petersdom in Rom besucht. Wir waren provinziell geworden, obwohl wir Westbücher lasen, Westmusik hörten und Westkleidung trugen. Wir überhöhten das Erreichbare, um die Trauer über das Unerreichbare nicht zu verspüren. Und wir unterdrückten die Trauer über das Unerreichbare, um uns mit dem Erreichbaren zu arrangieren.
Da stehen wir nun - angekommen, wo es nicht weitergeht. Hinter uns das bewachte Land, vor uns die bewachte See. In diesem Augenblick aber sehen wir weder Wachturm noch das Schiff der Wächter - nur die Ostsee, eine Ahnung von Weite, Ferne, Freiheit. Für einen schönen Moment sind wir nur bei dem, was uns träumen lässt. Wenn wir uns umdrehen, werden wir ein anderes Gesicht haben.
Es war ein ganz normaler sonntäglicher Familienausflug in
den sechziger Jahren. Wir standen auf der Mole in Warnemünde, zwei Jungen an der Hand ihrer Eltern. Ein großes, weißes Schiff fuhr hinaus auf die Ostsee. Ein imponierendes Bild. Die Jungen waren begeistert.
»Wie schön! Da wollen wir auch mitfahren!« »Das ist eine Fähre nach Dänemark, da können wir nicht drauf.«
»Wieso, da sind doch Menschen zu sehen!«
»Ja, aber da dürfen nur Menschen aus dem Westen mitfahren.«
Meine beiden Jungen waren empört, sie fanden das »total blöd«. Ich hätte nun sagen können, auch ich fände es widerlich, eingesperrt zu sein. Stattdessen versuchte ich, die Kinder vor Traurigkeit zu bewahren. Sie sollten nicht denken und fühlen, dass sie Gefangene seien, nicht so früh schon, als Kinder! Deshalb erklärte ich ihnen, dass sie noch zu klein seien, um das zu verstehen, und dass das Eis am Strand von Warnemünde viel besser schmecke als das Eis in Dänemark. So haben wir das Unnormale oft zur Normalität erklärt, um nicht von Schmerz, Wut und Zorn erdrückt zu werden. Wir machten uns lebensfähig, auch hart, und haben uns unbewusst Gefühle verboten und diese zum Teil abgetötet, wenn sie das Funktionieren im Alltag zu gefährden drohten.
Nach dem Mauerbau gab es über zweieinhalb Jahre lang überhaupt keinen Weg nach Hüben und keinen nach Drüben. Erst Ende 1963 wurde ein Passierscheinabkommen unterzeichnet, das es West-Berlinern ermöglichte, über Weihnachten und Neujahr Verwandte im Ostteil der Stadt zu besuchen; ein Jahr später wurde ein zweites Passierscheinabkommen beschlossen. Einen kleinen Spalt öffnete sich die Grenze auch durch den Häftlingsfreikauf, der seit 1963 zwischen dem westdeutschen Ministerium für gesamtdeutsche Fragen und dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel ausgehandelt wurde. Die DDR-Regierung erklärte sich bereit, politische Häftlinge ausreisen zu lassen - anfänglich gegen 8000 DM, später gegen 97 000 DM pro Häftling. Fast zeitgleich begann auch die Evangelische Kirche mit dem Freikauf.
Er zielte auf Fluchthelfer und zu langen Freiheitsstrafen verurteilte politisch Verfolgte, zudem wurde ein Gefangenenaustausch vereinbart. In einzelnen Fällen hat auch eine Familienzusammenführung stattgefunden wie bei meiner jüngeren Schwester Sabine.
Sabine hatte im Frühjahr 1965 gerade Abitur gemacht, als uns Jochen Zeeck besuchte, der Patensohn meines Vaters aus Hamburg. Bis Kriegsende hatte Familie Zeeck zur Rostocker Oberschicht gehört. Unter Großvater Gustav Zeeck war ihr Handelsunternehmen außergewöhnlich expandiert: Zwischen 1906 und 1922 waren ein Bekleidungs-und ein Teppichhaus sowie eine Villa in Rostock gebaut, zwei Textilkaufhäuser im pommerschen Kolberg und Köslin und ein Kaufhaus im Ostseebad Warnemünde eröffnet worden. Nach Kriegsende gehörte der Familie von einem Tag auf den anderen nichts mehr. Die beiden pommerschen Kaufhäuser lagen nunmehr in Polen, die Kaufhäuser in Rostock und Warnemünde wurden enteignet, in die Rostocker Villa zogen erst die Sowjets ein, dann wurde sie der Universität überlassen. Zeitweilig wohnte Familie Zeeck im Keller
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