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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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nötig hatten, den leichteren Weg zu gehen. Die Guten, dachte ich, seien nicht auf der Flucht, die Guten stünden an der Front. Und wir, die Theologen, dürften die Menschen nicht verlassen. Wir hätten mit der Verkündigung die Aufgabe, andere Maßstäbe zu setzen als die Partei.
    Aber es war auch noch etwas anderes, das mich bleiben ließ: Ich kannte mich im Osten aus. So paradox es auch klingt, diese Landschaft politischer Unsicherheit war für mich berechenbar. Ich kannte ihre Fallgruben und ihre Netze, ich wusste, wie man sich durchschlängeln konnte. Ich kannte die Realität besser als mancher meiner Gegner. Also, warum sollte ich gehen?
    Wer weiß, wie ich mich entschieden hätte, wenn ich beim Besuch von Tante Lisa Anfang August 1961 gewusst hätte, dass nur wenige Tage später die Mauer gebaut werden würde. Wenn ich geahnt hätte, dass so schnell eine Zeit kommen würde, in der es kein Hier-Sein und kein Dort-Sein, kein Sowohl-als-auch mehr gab. Noch empfand ich so wie Uwe Johnson, der - über sich selbst in der dritten Person sprechend - gesagt hat: »Er war kein
Flüchtling … Unter Flucht verstand er eine Bewegung in großer Eile, unter gefährlicher Bedrohung; er [aber] war mit der Stadtbahn gekommen.« Erst als ich die Bilder von bewaffneten Grenzsoldaten sah, die die Maurer bewachten und die Zufahrten nach West-Berlin verschlossen, wurde mir schmerzlich bewusst, dass wir nicht mehr wählen konnten. Es gab keine Besuchsreisen mehr. Wer nicht geflüchtet war, wurde eingeschlossen. Wir saßen fest.
    Tante Lisas Angst, dass Chruschtschow einen dritten Weltkrieg riskieren und West-Berlin überrennen lassen würde, stellte sich Gott sei Dank als unbegründet heraus. Es würde keinen Krieg geben. Chruschtschow hatte mit dem Mauerbau seinen Verzicht auf West-Berlin signalisiert, und die westlichen Alliierten wollten wegen der Mauer keinen Krieg riskieren. Der Preis für diese Art des Friedens war das scheinbar endgültige Auseinanderbrechen Deutschlands.
    Bis zum Mauerbau hatte ich die ständigen Abschiede rund um mich herum gelassen hingenommen, ohne Trauer, als etwas ganz Normales. Es hauten zwar viele ab, aber sie blieben auch im anderen Teil Deutschlands erreichbar, manchmal erwiesen sich ihre neuen Wohnorte sogar als begehrte Anlaufstellen für unsere Reisen in den Westen. Allein in unserer unmittelbaren Nachbarschaft verloren wir in verschiedenen Fluchtwellen den Richter aus der Doppelhaushälfte neben unseren Großeltern und den Juristen aus dem Haus meiner Eltern. Wir verloren in unserer Straße ferner die Familie von Ellen Dedow, dem Mädchen, das ich mit sieben Jahren als erste geküsst hatte, die Apothekerfamilie Piper, die Architektenfamilie Fach und die Lehrerfamilie Scheefuß. Aus dem Freundeskreis meines Vaters in Wustrow blieben wir als einzige Kapitänsfamilie zurück. Es gingen Tante Marianne und ihre beiden Kinder, es gingen die Familie Schelper, die Familie Held, die Familie Schilling, die Familie Schommartz, und von der Familie Reiche blieb nur der jüngste von vier Söhnen zurück.
    Die Flüchtlinge ließen fast immer ihre Wohnungen zurück, wie sie waren, da jede Aktion, Gegenstände zu verkaufen oder zu
verschenken,Verdacht hätte erregen können. So wurde ihr Nachlass zum Objekt der Begierde. Manche Szenen von damals erscheinen mir im Rückblick makaber. Sobald Verwandte oder Nachbarn sicher waren, dass jemand geflüchtet war, etwa weil in der Wohnung wochenlang niemand lebte oder ein entsprechender Brief aus der Bundesrepublik eintraf, drangen sie nicht selten in die verlassenen Zimmer ein und nahmen mit, was sie gebrauchen konnten. Einige verfügten über einen Wohnungsschlüssel, andere wohl auch nicht. Der Diebstahl verursachte nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Wenn der Staat die Menschen schon aus dem Land trieb, sollte er sich nicht auch noch an ihrem zurückgelassenen Eigentum bereichern. Es galt, sich Beutegut zu sichern, bevor die staatliche Handelsorganisation das gesamte Inventar auflisten und verkaufen konnte. Manche Nachbarn erwarben die Sachen auch regulär: entweder direkt vor Ort, wenn sie mehr oder weniger zufällig auf den offiziellen Schätzer trafen, der den Nachlass taxierte, oder in den Läden für An-und Verkauf, in denen die zurückgelassene Habe anschließend verkauft wurde.
    Selbst wenn Klassenkameraden in den Westen gingen, empfand ich das als normal. Von der Goethe-Oberschule, die ich besuchte, bis zum Rostocker Hauptbahnhof war es nicht weit; durch

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