Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
ich, dass meine Freundin und ihr Sohn gut in Hannover angekommen waren.
Am nächsten Tag war ich dran. Ich hatte genaue Instruktionen: Ich sollte in die Raststätte bei der Tankstelle gehen und
auf den Fluchthelfer warten, den ich noch nie gesehen hatte, der mich aber erkennen würde, da er ein Foto von mir besaß. Er würde einen Ring meiner Freundin auf den Tisch werfen, eine unverwechselbare Anfertigung von einem Goldschmied, so dass ich Vertrauen zu ihm haben könne, und er würde laut zu schimpfen beginnen: Warum ich sein Verlobungsgeschenk schon wieder im Auto verloren hätte …
Meinen Wohnungsschlüssel warf ich in die Spree; niemand sollte als Fluchthelfer angeklagt werden können, und der Stasi wollte ich das Eindringen in die Wohnung nicht erleichtern. Dann trampte ich los, ebenfalls in Westklamotten, ebenfalls von Schönefeld aus - und geriet an einen Wartburgfahrer, der zudringlich wurde, die Hand auf mein Knie legte und an Michendorf vorbeifuhr. Ich wurde laut, und so ließ er mich schließlich raus, mitten auf der Autobahn, was natürlich auffällig war. Zu meinem Glück befand sich auf der gegenüberliegenden Seite eine Ausfahrtstraße, an der ein Engländer angehalten hatte, um Wasser in seinem Kühler nachzufüllen. In dem Auto war kein Platz mehr, als ich seiner Frau aber von dem aufdringlichen Wartburgfahrer und einem Freund erzählte, der in Michendorf auf mich warten würde, nahm sie mich die kurze Strecke auf den Schoß.
In Michendorf musste ich mich erst einmal auf der Toilette beruhigen. Dann arbeitete ich cool den Plan ab, setzte mich an einen Tisch, bestellte Essen für zwei Personen, dazu Wasser und einen Kaffee und wartete auf meinen unbekannten Verlobten. Damals trugen die Stasi-Mitarbeiter gern gelbe Hemden und die verräterischen Henkeltäschchen. Unverkennbar hatten sie zwei Tische der Raststätte besetzt, leere Kaffeetassen vor sich, den Blick vordergründig auf Artikel im Neuen Deutschland gerichtet. Ich bemühte mich, möglichst ruhig zu erscheinen. Endlich kam jemand auf mich zu, warf den goldenen Ring auf den Tisch und beschuldigte mich mit erhobener Stimme: »Jetzt passiert das schon zum zweiten Mal! Du achtest meine Geschenke nicht! Schon wieder hast du den Ring im Auto verloren!« Und
ich: »Hab dich nicht so! So was kann doch mal passieren!« Es folgte ein heftiger Wortwechsel, bis ich schließlich rief: »Kellnerin, bitte zahlen.« Er zahlte natürlich mit Westgeld.
Ich setzte mich im Renault 4 zunächst auf den Beifahrersitz. Irgendwo auf der Strecke zwischen Michendorf und Berlin-Dreilinden hatte ich an einem Seil zu ziehen, damit sich hinten im Auto die Hutablage öffnete, dann kroch ich über den Rücksitz in den Gepäckraum. In der Enge geriet ich an den Rand der Panik: Wenn einer auf uns aufführe, so meine Angst, würde ich verbluten, denn keiner würde mich finden. Dann fürchtete ich, bei der Grenzkontrolle zu husten. Ich lutschte die Anti-Husten-Pillen, die ich mir extra von Sabine aus West-Berlin hatte schicken lassen. Später erfuhr ich, dass ich dem Placeboeffekt erlegen war: Die Pillen waren gegen Husten wirkungslose Tic-Tac-Pastillen.
Die erste, die Ostkontrolle: »Ausweis und Papiere!« Ich hörte alles. Dann die Westkontrolle. Dann Stille. Mein Fluchthelfer bog rechts ab, blieb stehen und holte mich aus dem Gepäckraum. Ich sah mich um und bekam einen hysterischen Anfall. »Warum hast du mich angelogen? Dies hier ist nicht West-Berlin! West-Berlin ist eine Großstadt, da gibt es keine Bäume!«
Er schüttelte mich, schrie mich an: »Guck auf die Straße! Guck dir die Autonummern an!« Wir standen auf der Potsdamer Chaussee, Bäume auf beiden Seiten, alle Autos hatten Westnummern. Ich konnte mich nur schwer beruhigen. Er fuhr mich nach Kreuzberg in ein Café, wo ich unerwartet auf meine Freundin stieß. Sie war von Hannover nach Berlin geflogen. Es war wie im Hollywood-Film. Wir lagen uns schluchzend in den Armen.
Ich habe Sibylle im Januar 1978, ein Dreivierteljahr nach ihrer Flucht, in Berlin getroffen. Wider Erwarten hatte ich die Genehmigung für eine zehntägige Besuchsreise erhalten, als meine Schwester Sabine zum zweiten Mal heiratete - meine erste Ausreise
nach siebzehn Jahren. Einerseits war ich stolz auf Menschen wie Sibylle, die dem Regime zeigten, dass seine Bindungskräfte gering waren und sich nicht jeder Bürger brechen ließ. Aber in mir saß auch ein Stachel: Was würde denn sein, wenn immer mehr Menschen wie sie uns im Stich ließen?
Weitere Kostenlose Bücher