Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
fand, allerdings sei er ein guter Fachmann und verhalte sich freundlich gegenüber den Patienten. Da Christian fürchtete, wegen eben dieser Fachkenntnisse könne er als unentbehrlich für die DDR eingestuft werden, kündigte er im Medizinischen Zentrum Mitte und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Mal fuhr er durch das Land, um die Haushaltswaren eines der wenigen privaten Großhandelsgeschäfte auszuliefern; mal arbeitete er als Sekretär für den Kirchentag. Er wollte demonstrieren, dass er auch in seinem sozialen Verhalten nicht systemkonform sei und dass man ihn nicht mehr zum Nutzen der DDR einsetzen könne. Er wurde depressiv, antriebslos, er fühlte sich gelähmt in diesem Land, das ihm keine Perspektive bot und ihm nicht einmal gestattete, alte Menschen im Rahmen der ostdeutschen Wohlfahrtsorganisation »Volkssolidarität« mit Mahlzeiten zu versorgen - er hätte sie ja negativ beeinflussen können.
In Abständen von wenigen Wochen verfasste Christian Eingaben an den Rat der Stadt Rostock, an die Abteilung für Innere Angelegenheiten, an den Oberbürgermeister, an den Innenminister und - ähnlich wie seine Großmutter - an den ersten Mann im Staat, der nun nicht mehr Wilhelm Pieck, sondern Erich Honecker hieß. Immer wieder klagte er »Entwicklungsmöglichkeiten« ein, »die uns in der DDR nicht gegeben sind«. Mit seiner vierköpfigen Familie wohnte er in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung; die ältere Tochter stand kurz vor der Einschulung. »Sicherlich
wird es früher oder später in der Schule Konfrontationsprobleme geben, die für alle Beteiligten störend und unerfreulich sein dürften«, schrieb Christian an Honecker. Würde ihm, so erkundigte er sich in einem anderen Schreiben, der Grenzübertritt in die ČSSR gestattet, in die DDR-Bürger noch ohne Visum fahren konnten, auch wenn ihm der Aufenthalt in Ungarn und im Bereich der deutsch-deutschen Staatsgrenze untersagt sei? Sein Ton in den Eingaben wurde schärfer. Er bat nicht mehr, er schimpfte. »Wir haben es satt, uns ständig mit Plattitüden abspeisen zu lassen«; er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, »dass wir systematisch für dumm verkauft werden«. Er sah, dass andere, die ihre Anträge später als er eingereicht hatten, bereits hatten ausreisen dürfen, obwohl auch sie keine Verwandten in der Bundesrepublik hatten. Er wollte sich nicht mehr, wie ihm in den Gesprächen immer wieder angeraten wurde, ruhig und abwartend verhalten.
Damals ist es zum Konflikt zwischen uns gekommen. Durch meine Jugendarbeit in der Kirche und als Leiter der Kirchentagsarbeit in Mecklenburg hatte ich Verbindungen in den Westen, gelegentlich durfte ich auch auf Dienstreise gehen und lernte so beispielsweise Richard von Weizsäcker und Hildegard Hamm-Brücher kennen. Als zwei Mitglieder meiner Jungen Gemeinde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden, habe ich Weizsäcker gebeten, sich für diese jungen Leute einzusetzen.
Christian war erbost: »Für andere setzt du dich ein! Für deine eigenen Söhne nicht!«
Es stimmte. Ich war der Meinung, sie würden ihren Weg gehen, so wie ich meinen gegangen war: »Solltet ihr allerdings in den Knast kommen, würde ich mich auch für euch einsetzen und nichts unversucht lassen, um euch herauszuholen.«
Auch das stimmte. Aber tief in mir regte sich Widerstand. Ich wünschte mir, sie würden bleiben und die Reihen der Andersdenkenden verstärken - hier, bei uns, in der DDR. Sie gehören doch zu uns, sagte mir mein Herz, zu denen, die alles verändern wollen, zu denen, die nicht fliehen, sondern stehen, zu denen, die
noch hoffen, wenn unsere Hoffnungen schwinden, die die Lieder singen, die wir singen, die die Zwischentöne in den Gedichten kennen, die wir lieben. Die noch kämpfen werden, wenn wir ermatten, die uns tragen werden, wenn wir fallen, die uns beerdigen werden, wenn das Ende gekommen sein wird. Wir brauchen unsere Söhne und Töchter doch, die sehen und nicht vergessen wollen, die Zeugnis ablegen werden und immer wieder treu sind, wo andere sich verkaufen … Nein, und tausendmal nein!
Aber ich sagte ja. Mein Kopf sagte ja. Sie hatten doch das Recht auf ein Leben, das ihnen entsprach. Mit welchem Recht hätte ich sie daran hindern können?
Jetzt musste es nur noch durchgestanden werden. Als ich bei einem Gespräch vom Referenten der Stadt Rostock für Kirchenfragen auf die Ausreiseanträge meine Söhne angesprochen wurde, gab ich bitter zurück: »Auch von Staatsfunktionären haben Kinder
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