Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Was würde denn sein, wenn die Aufrechten immer weiter geschwächt wurden?
»Es müssen doch welche bleiben, die dafür eintreten, dass am Ende die Wahrheit siegt«, sagte ich, »ist es dir nicht mehr wichtig, die Verhältnisse zu ändern?«
»Sollte ich am Fließband mein Leben verbringen«, fragte Sibylle, »oder wie andere entlassene Ausreiseantragsteller als kirchliche Hilfskraft arbeiten? Alles völlig unter meinen Möglichkeiten? Du kannst leicht reden. Du hast die Kirche im Hintergrund.«
Pastoren durften nicht gehen. Die Verletzung der theologisch gebotenen Treuepflicht hatte Konsequenzen: Den etwa hundert Pastoren, die zwischen 1975 und 1989 ausreisten, wurden die Ordinationsrechte im Westen frühestens nach zwei Jahren und nur nach Rücksprache mit den Landeskirchen wieder zuerkannt. Nicht wenige kritisierten diese Regelung, musste das Bleiben angesichts der drohenden Bestrafung doch wie eine Zwangsrekrutierung erscheinen. Aber ich blieb nicht, weil ich musste, ich blieb, weil ich wollte. Ich blieb, weil ich in der Kirche einen Frei-und Schutzraum fand; Sibylle ging, weil ihr die DDR diesen Freiraum außerhalb der Kirche nicht einräumte. Im Kopf war mir klar: Wenn ich das Recht auf Freizügigkeit und Freiheit einfordere, kann ich dem Einzelnen die Wahrnehmung dieser Rechte nicht streitig machen. In der Praxis aber blieb es ein Widerspruch für mich und für meine Kirche. Wir unterstützten die Ausreisewilligen nicht oder nur begrenzt, auch unser Landesbischof Stier plädierte für Bleiben: »Gott braucht uns gerade hier, und gerade uns braucht er als Boten und Werkzeuge seiner Liebe.«
Manchmal gingen kirchliche Mitarbeiter dennoch. Zum Beispiel Christine, eine junge Frau, die ihren ersten Mann, einen Organisten, durch eine heimtückische Krankheit verloren hatte. Nach seinem Tod wollte sie nicht mehr als Krankenschwester arbeiten
und suchte nach einer Aufgabe in der Kirche. 1980 nahm sie in Warnemünde eine Stelle als Küsterin an, später kam sie als eine Art Gemeindehelferin zu uns nach Evershagen. Christine war, nachdem sie aus der Trauer aufgewacht war, eine sehr moderne, lebenslustige Frau, deren christlicher Glaube völlig natürlich und niemals weltfremd war. Ein Mensch mit der Fähigkeit zum aufrechten Gang, mit Mut und Toleranz. Sie half mir bei der Arbeit mit den Jugendlichen, wirkte bei Gottesdiensten mit, sie war am Verfassen der Gemeindebriefe beteiligt und bereitete Veranstaltungen vor. Sie suchte und fand Oppositionelle in anderen Gemeinden und hatte auch viele Kontakte in den Westen. Eines Tages kam ein Amerikaner, der - wie bei Reisen in die DDR nicht unüblich - von irgendjemandem ihre Adresse erhalten hatte, weil er Kontakte suchte. Sie verliebten sich ineinander, und Christine entschied sich, seinetwegen das Land zu verlassen. Diese Entscheidung ist ihr sehr schwergefallen, sie hat die Jugendlichen erst ganz zum Schluss darüber informiert. Ja, wir waren tieftraurig, einige auch enttäuscht. Sie hätte doch auch in der DDR einen Mann finden können, dachten wir.
Ursprünglich wollte Christine ihre Hochzeit in der DDR feiern, damit die Stasi die Heirat nicht für einen Ausreisevorwand hielt. Außerdem hätte ihr Freund gern seine künftigen Schwiegereltern kennen gelernt. Doch die bereits erteilte Heiratserlaubnis wurde zurückgezogen. Aus Christines Stasi-Unterlagen geht hervor, dass ein jugendlicher Informant aus meiner Nachbargemeinde seinem Führungsoffizier gemeldet hatte, dass ein großes Fest geplant sei. Dazu sollte es aber auf keinen Fall kommen, denn dann hätten alle sehen können, dass es möglich war, in der DDR einen Ausländer zu heiraten und danach auszureisen. Christine musste innerhalb von zwei Wochen das Land verlassen. Ihre Geschwister sollten sich verpflichten, keine Anträge auf Familienzusammenzuführung zu stellen. Einige haben sich tatsächlich schriftlich verpflichtet, andere nicht - es war letztlich völlig egal.
Am Abend vor der Ausreise haben wir in der Sankt-Andreas-Kirche Abschied voneinander genommen. Wir saßen im Kreis,
sehr viele Kerzen brannten, wir haben das Abendmahl mit ihr gefeiert, ich habe eine Meditation gehalten und mit großen Dichterworten und heiligen Bibelzitaten versucht, die Traurigkeit über den Verlust eines Menschen zu überdecken, mit dem ich so intensiv zusammengearbeitet hatte und den die Jugendlichen so liebten. Wenn man Menschen lassen muss, mit denen man gekämpft, gebangt, die Feste des Glaubens gefeiert hat, dann ist,
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