Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
kenne, die alle drei auf die 50. Oberschule in Evershagen gingen. Christian war in meiner Englischklasse, Martin und Gesine traf ich bei Vertretungsstunden. Es kam ferner heraus, dass ich mit der Familie befreundet bin und sie des Öfteren besuche. Ich wurde zum Direktor und zum stellvertretenden Direktor zitiert: »Wir empfehlen Ihnen, bei der Aufsicht auf dem Schulhof nicht so vertraulich mit den Konfirmanden und den Kindern von Pastor Gauck umzugehen.«
»Aber es wird doch ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis gefordert! Außerdem ist mir völlig unbekannt, wer in den Konfirmandenunterricht geht. Und Gesine ist mein Patenkind …«
Dann kam der Subbotnik. Ich sagte: »Ich kann nicht, ich habe am Nachmittag Englischunterricht. Ich muss den Lehrauftrag der Schule erfüllen.« Der Direktor fand den Subbotnik wichtiger als den Englischunterricht, ich umgekehrt. Während ich Englisch unterrichtete, haben die anderen die Erde umgegraben, Rasen gesät und Büsche gepflanzt. Das kam nicht gut an. Der Englischunterricht wurde auf die nullte Stunde verlegt: 6.45 Uhr. Wider Erwarten kamen die Schüler dennoch. Doch ich war nach einiger Zeit so erschöpft, dass ich den Schulalltag nur noch mit beruhigenden Faustan-Tabletten bewältigte.
Im Juni 1976 wurde mir mitgeteilt, dass ich nach den Sommerferien an eine andere Schule versetzt würde: »In der Karl-Marx-Schule wird Ihnen ein Kollektiv von bewährten Kollegen und Genossen bei der ideologischen Festigung helfen.«
Ich wechselte nicht die Schule, ich kündigte. Ich wollte keine Lehrerin mehr sein und zog zurück in meine Ost-Berliner Wohnung. Ich jobbte, sortierte nachts Briefe bei der Post und hielt mich mit Kurzverträgen bei der Deutschen Film AG über Wasser.
Ich wollte raus. Ich sollte zu Kreuze kriechen. Mir sollte das Rückgrat gebrochen werden, es ging um Zerstörung. Dieses System war ein Angriff auf meine Autonomie. Ein Ausreiseantrag kam nicht in Frage, da wäre ich wieder von ihrer Gnade abhängig gewesen. An der Mauer erschießen lassen wollte ich mich auch nicht. Also musste ich den Transitweg wählen. Es war bekannt, dass es noch immer Fluchthelfer gab und dass die Chancen nicht schlecht standen.
Und wie das Leben so spielt: Ich stieß auf eine alte Schulfreundin, die mit ihrem dreijährigen Sohn ebenfalls raus wollte. Wir begannen, jedes Wochenende zu trampen - nach Leipzig, nach Dresden, nach Rostock -, damit es nicht auffiele, wenn wir uns irgendwann auf die Transitstrecke begeben würden. Viele sind damals getrampt; es gab eine richtige Trampkultur. Wir haben uns außerdem zur Tarnung an der Filmhochschule Babelsberg für eine Ausbildung beworben, haben einen Ferienplatz
in Ungarn gebucht und angezahlt; ich hatte mich sogar noch in der Fahrschule angemeldet. So gaukelten wir eine Zukunft in Ost-Berlin vor.
Eines Tages kam die Nachricht von Sabine Gauck, die inzwischen in West-Berlin wohnte: Am 17. Juni 1977 geht es los! Meine Freundin sollte um 19.30 Uhr an der Tank-und Raststätte Michendorf Richtung Helmstedt sein, ich einen Tag später um dieselbe Uhrzeit an derselben Stelle, aber auf der anderen Seite der Autobahn, Richtung Berlin. Der Fluchthelfer würde die Freundin mit ihrem Sohn nach Hannover bringen und mich auf der Rückfahrt nach West-Berlin mitnehmen.
Es lastete sehr schwer auf mir, dass ich mich nicht von meinen Freunden verabschieden konnte. Ich wollte sie nicht gefährden, denn das Regime war schnell dabei, Menschen wegen »Mitwisserschaft« und »Beihilfe zur Republikflucht« zu verurteilen. Ich musste einfach aus den Beziehungen heraustreten, ohne die anderen informieren zu können. Nur ich wusste, dass, wenn wir uns »Auf Wiedersehen« sagten, es vielleicht ein Abschied für immer sein würde, zumindest für dreißig Jahre, bis sie Rentner sein würden.
Meine Freundin war als Erste dran. Ihr Outfit stimmte: Sie trug nur Sachen aus dem Westen, im Portemonnaie befand sich nur West-und kein Pfennig Ostgeld. Eine befreundete Kinderärztin mischte ihrem dreijährigen Sohn ein Schlafmittel in den Orangensaft, damit er im Kofferraum des Renault 4 ruhig blieb. Ich brachte beide bis zur Stadtgrenze nach Berlin-Schönefeld, von dort mussten sie bis nach Michendorf trampen.
Am Abend ging ich ein letztes Mal ins Deutsche Theater, anschließend saß ich aufgeregt in meiner Wohnung und wartete. Schließlich rief Sabine Gauck wieder an: »Meine Schwester will ihren Geburtstag doch in Berlin feiern.« Das war der verabredete Code. Da wusste
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