Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
als ginge ein Stück von einem selber weg. Am nächsten Morgen brachte ich sie um halb sieben zum Zoll. Christine hatte nur einen Rucksack - mehr nahm sie nicht mit aus ihrem Leben in der DDR. Ich gab ihr zwanzig Westmark, damit sie bis Köln, wo ihr Verlobter auf sie wartete, einen Notgroschen hatte. Dann war sie weg. Menschen wie sie waren in der Gemeindearbeit nicht leicht zu ersetzen.
Ich fragte mich damals, an wie vielen Orten, in wie vielen Gemeinden wohl gerade ähnliche Abschiede stattfanden. Ein Abschiedsland war aus unserem Land geworden - oder war es schon immer eines gewesen?
Seit 1983 war es möglich, eine Ausreise zur Familienzusammenführung und zur Eheschließung zu beantragen. Unter der Hand wurde diese Verordnung auch auf andere Personen ausgedehnt. Rechtsanwalt Vogel erhielt aus Bonn Listen mit Übersiedlungswilligen, die er in Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit »abarbeitete«: Bis 1989 wurden etwa 250 000 Menschen aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen. Unter ihnen drei meiner vier Kinder.
Fast zeitgleich, aber unabhängig voneinander haben meine Söhne Christian und Martin im Frühjahr 1984 den Entschluss gefasst, das Land zu verlassen und im Westen neu anzufangen. Meine Frau und ich hatten zwar damit rechnen müssen, dass sie der Freiheit und der Demokratie zustreben würden, die wir ihnen als Gegenentwurf zur DDR geschildert hatten. Sie seien eigentlich im Westen aufgewachsen, haben beide Söhne später immer wieder gesagt. In unserer Familie wurde nur Westradio gehört und nur Westfernsehen geschaut. Das Ostfernsehen schalteten wir höchstens ein wegen einer Fußballübertragung oder wegen eines
alten Films. Aber als sie dann tatsächlich die Ausreise beantragten, war es ein Schock. Es fiel mir schwer, ihre Wünsche zu akzeptieren und zu unterstützen.
Beide Söhne bezogen sich in ihrem Ausreiseantrag auf die 1976 in der DDR in Kraft getretene Internationale Konvention über zivile und politische Rechte der UNO, wonach es jedem freisteht, »jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen«, ferner auf die Schlussakte von Helsinki 1975 und die Dokumente des Folgetreffens 1983 in Madrid. Beide erhielten in regelmäßigen Abständen Einladungen in den Rat der Stadt, Abteilung Inneres, wo ihre Anträge auf mündlichem Weg negativ beschieden wurden: Bei der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki und anderen internationalen Dokumenten, so hieß es, handele es sich um Absichtserklärungen ohne verpflichtenden Charakter. Gesetzlich vorgesehen seien in der DDR allein Familienzusammenführungen und Ausreisen wegen Eheschließungen, beides träfe nicht zu. Und außerdem: »Was wollen Sie im Westen? Tennisbälle aufsammeln?« Oder: »Wenn Sie weiter uneinsichtig bleiben und weitere Anträge stellen, fassen wir das als Nötigung der Behörden auf und werden strafrechtlich gegen Sie vorgehen.«
Als Martin trotz des Ausreiseantrags gemustert wurde, stellte er sich quer: Er würde keinen Fahneneid auf einen Staat leisten, den er verlassen möchte, und er würde auf keinen Fall Dienst mit der Waffe tun. Die Gründe lägen auf der Hand. Als Orthopädiemechaniker habe er fast täglich mit Prothesenträgern zu tun, mit Invaliden aus dem Zweiten und sogar noch aus dem Ersten Weltkrieg, auch mit Mitgliedern der Sandinistischen Befreiungsfront aus Nicaragua, die von der DDR aufgenommen worden seien. Er werde nie auf Menschen schießen. Nach dieser schriftlichen Erklärung hat sich die Musterungsbehörde nicht mehr bei ihm gemeldet.
Fast vier Jahre mussten beide warten. Fast vier Jahre, in denen sie täglich die Nachrichten verfolgten, um sich über den aktuellen Stand der deutsch-deutschen Verhandlungen und die Ausreisechancen zu informieren. Martin trug es, zumindest äußerlich, gelassener. Er ging weiter seiner Arbeit nach und fühlte sich aufgehoben
unter seinen Kollegen, die ihn unterstützten und sich der Aufforderung der Betriebsleitung verweigerten, seine Ausreise zu verurteilen. Er hat sein Verfahren ganz allein durchgeboxt und mich niemals um Unterstützung gebeten. Er war überzeugt, er müsse nur abwarten. Von überall kamen bereits die Nachrichten, dass man Ausreisewillige ziehen ließe - die Frage war nur, wann.
Christian ertrug die Wartezeit schlechter, denn er wurde ausgegrenzt und gedemütigt. Die bereits laufende Ausbildung zum Orthopädiemeister wurde ihm gestrichen. Er trete politisch negativ auf, stand in den Beurteilungen der Firma, die er später in seinen Stasi-Unterlagen
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