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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Ausreiseanträge gestellt. Warum soll es bei Pastoren anders sein? Wir müssen damit leben. Ich selber werde die DDR nie verlassen.«
    Die Zeit des Wartens zehrte auch an den Nerven derer, die blieben. »Es ist alles so unbegreiflich«, schrieb meine Tochter Gesine in ihr Tagebuch. »Schrecklich das Gefühl, das mich jedes Mal überkommt, wenn ich daran denke, dass es jede Woche so weit sein kann. Ich schiebe es weit weg - dabei ist es so nah. Ich habe große Angst vor dem Getrenntsein von ihnen, aber für den neuen Anfang ist es für sie alle eigentlich besser, wenn sie bald drüben sein können. Es tut sehr weh …«
    Dann ging alles sehr schnell. Im November 1987 wurden beide Söhne aufgefordert, einen neuen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu stellen, nach vierzehn Tagen kam der positive Bescheid, innerhalb von wenigen Tagen mussten sie ihr Leben in der DDR auflösen: Man durfte keine Schulden haben, musste sich überall abmelden und Listen des Umzugsguts erstellen.
    »Vor zwei Stunden rief Mutti an«, notierte Gesine am 2. Dezember 1987 in ihr Tagebuch, »und sagte: ›Unsere Kinder dürfen jetzt ausreisen.‹ Erst als der Hörer lag, kamen mir die Tränen mit Macht, und ich habe wohl noch nie so in Gegenwart von Leuten geweint. Das tut so weh, jetzt vor Weihnachten - alle weg. Diese Ohnmacht, diese Hilflosigkeit, wenn man doch die Grenze einreißen oder wenigstens dafür sorgen könnte, dass man sich regelmäßig besuchen könnte. Es ist wie ein Tod. Nie wieder wird unsere Beziehung so sein, wie sie bis jetzt war. Nie! Jeder wird mir fehlen. Wenn wir uns doch bloß bald wiedersehen könnten, aber das wird wohl ein Wunsch bleiben.«

    Selten war der Besitz eines Dokuments mehr ersehnt als in diesem Fall. Fast vier Jahre haben meine beiden Söhne Christian und Martin für ihre Ausreise und die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gekämpft. Für sie, die gingen, hatte sich ein Traum erfüllt. Für uns, die wir blieben, war die Welt ärmer geworden.

    Unsere Gefühle damals habe ich wiederentdeckt in dem Lied, das die Sängerin Bettina Wegner ihren »weggegangenen Freunden« widmete:
    Es sind zuviele von uns weggegangen,
ach hätte niemals niemand damit angefangen.
Trauer und Wut, das hat euch weggetrieben
Mensch wär das schön, ihr wäret alle hiergeblieben.
Bei euch, bei uns,
und auch bei mir.
    …
    Ich werde dieses Lied vielleicht nur summen,
und eines Tages vielleicht ganz verstummen.
    Schweigend und klein verbucht man die Verluste,
ich weiß nur sicher, dass ich bleiben musste.
    Dass unsre Ohnmacht nicht noch größer wird,
dass unsre Ohnmacht nicht noch größer wird!
    Während wir uns ebenso ohnmächtig wie traurig fühlten, wurden Christian und Martin aktiv. Tagelang waren sie damit beschäftigt, auf der »Erika«-Schreibmaschine ihrer Großmutter mit sieben Durchschlägen alles aufzulisten, was sie mitnehmen wollten, von der Schreibtischlampe bis zu jedem einzelnen Buch, das mit Autor, Titel, Verlag und Erscheinungsjahr zu erfassen war. Selbst ihre Kinder wurden von der Unruhe erfasst.
    Dann standen meine Frau und ich im Dezember 1987 zwei
Mal auf Bahnsteig 9 des Rostocker Hauptbahnhofs, im Abstand von einem Tag.
    »Wein doch nicht«, sagte ich zu meiner Frau.
    Ich hatte mich gegen das Zukunftsfieber der Aufbrechenden immun gemacht und wollte die Trauer der Bleibenden nicht teilen. Stattdessen erklärte ich meiner Frau die Welt: »Von Anbeginn der Zeit gehen erwachsene Kinder in die Welt hinaus, verlassen Eltern und Heimat. Was trauerst du also, wenn doch alles normal ist?«
    Ich wehrte mich gegen die Tränen der Frau, weltschlau und gefühlsgelähmt; die Tränen der Söhne habe ich nicht gesehen. Christian brach zusammen, sobald sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte: Die Anspannung der ganzen letzten Jahre floss aus ihm heraus, die Angst, die Wut, der Trotz, die Sehnsucht. Es war vorbei. Er würde sich nicht mehr schützen und abschotten müssen gegen jene, die seinen Aufstieg von seiner Unterordnung abhängig machten. Er würde seinen eigenen Weg gehen, so wie er ihn sich in seinen Träumen immer und immer wieder ausgemalt hatte, und Medizin studieren. Er würde noch im Wintersemester in Hamburg mit dem Studium beginnen. Heute arbeitet er als Oberarzt für Orthopädie in einer Hamburger Klinik.
    Auch Martin, der stets Beherrschte, konnte die Tränen nicht unterdrücken, als der Zug bei Herrnburg über die Grenze nach Lübeck fuhr. Er sah durch das Zugfenster Autos auf den

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