Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
Vom Netzwerk:
Straßen fahren, die er nur von seinem Quartettspiel und von den Postern in seinem Kinderzimmer kannte, er sah farbige Häuser, bunte Reklameschilder, gut gekleidete Menschen, die ihm bisher nur vom Fernsehschirm vertraut waren. Gleich würden sie ankommen. Er würde die Zugtür öffnen und mit seiner Frau und der kleinen Louise auf dem Arm westlichen Boden betreten. Das erste Mal in seinem Leben.
    Jetzt waren sie wirklich weg. Am Heiligen Abend 1987 fehlten zwei Kinder, zwei Schwiegertöchter, drei Enkelkinder - sieben der uns liebsten Menschen waren fort, nur vier blieben unter dem Tannenbaum: eine Mutter, ein Vater und zwei Töchter.
    Als ihre Brüder die DDR verließen, war Gesine zur Ausbildung
als Kinderdiakonin in einem kirchlichen Seminar in Greifswald. In der Freizeit zog sie mit einer kleinen Band aus der Kirchenszene durch mecklenburgische Dörfer. Sie hatte sich anders als die Brüder entschieden. »Ich will hier leben und hier etwas tun für die Menschen«, schrieb sie in ihr Tagebuch. »Kinder und Musik gibt es überall, nur manchmal steigen Sehnsucht und Fernweh auf. Es ist nicht leicht.« Langsam fühlten wir uns wie der harte Kern, denn immer öfter erfuhren wir: Schon wieder ist jemand gegangen, schon wieder fehlt ein Gemeindemitglied. Doch Gesine war standhaft: »Ich bleibe hier.«
    Dann lernte sie ein halbes Jahr nach der Ausreise ihrer Brüder einen jungen Mann kennen, der Rostock mit einer kirchlichen Jugendgruppe aus Bremen besuchte. Heiko kam bald wieder, eine große Liebe begann, sie wollten zusammenbleiben. Aus Liebe wollte Heiko sogar nach Rostock ziehen. Erst als alle abrieten, da schwer vorstellbar war, dass ein junger Mann aus dem Westen sich in der DDR wohl fühlen könnte, erklärte sich Gesine schweren Herzens einverstanden mit der Ausreise. Sie befand sich in einem großen Zwiespalt. »Ich hatte mir so hohe Ideale gesetzt - hier zu leben und gerade, wenn so viele gehen, hier etwas zu tun: Wo Gott einen aussät, da soll man blühen. Gegen mich selbst anzukommen, ist nicht leicht. Ich muss, bevor ich gehe, damit klarkommen, denn wenn der Schritt erst getan ist, darf es keine Vorwürfe mehr geben. Morgen will ich mit Omi und Opa reden. Das fällt mir so schwer! Ich sehe noch Opas Gesicht, als die Jungs weg waren: ›Ein Glück, dass wenigstens du noch hier bist.‹ Und nun muss ich ihnen so weh tun.« Sie rechtfertigte sich schließlich, indem sie erklärte, sie ginge nicht, weil ihr das Land nicht gefalle, sie ginge auch nicht, um ein bequemeres Leben zu führen, sie ginge zu ihrem Mann. So glaubte sie gehen zu können, ohne ihre Ideale verraten zu müssen, denn Frau und Mann gehören zusammen.
    Im Juni 1989 holte Heiko sie mit einem Auto ab, wir beluden es randvoll, unter anderem mit einem alten Sekretär, den wir Gesine zum Abschied schenkten, dann stieg sie ein, schlug die Tür zu, winkte, wir winkten zurück, meine jüngste Tochter Katharina
und ich, meine Frau sah sich dem dritten Abschied nicht gewachsen und war verreist. »Es war alles so eigenartig«, schrieb Gesine später in ihr Tagebuch, »einerseits unendliche Freude, andererseits der Schmerz des Abschieds, Tränen, Worte, Segen von Vati für uns …, es war nicht leicht, und alles war unfassbar.«
    Die standesamtliche Trauung hatte als Voraussetzung von Gesines Ausreise in Rostock stattfinden müssen, zwei Monate später habe ich das Paar in Bremen kirchlich getraut. Unsere kleine dreiköpfige Restfamilie hatte zu der Hochzeit eine Reisegenehmigung erhalten. Wahrscheinlich haben sie gehofft, ich bliebe im Westen. Aber diese Freude wollte ich ihnen nicht machen.
    Wir kehrten Ende August 1989 zurück. Nur zwei Monate später schrieb ich einen Brief, den ich völlig vergessen hatte. Aber Gesine hat ihn aufbewahrt:
    Am Abend des 27. Oktober 1989.
    Ihr Lieben im Westen!
    Vor vielen Jahren hat Wolf Biermann in seinem wundervollen Lied »Ermutigung« die Zeile geschrieben: … das Grün bricht aus den Zweigen / wir woll’n es allen zeigen …
    Ja, so ist das jetzt bei uns. Das Grün bricht aus den Zweigen. Wir wissen noch nicht, ob ein Frost kommt und es vernichtet oder die Blüten dem Grün folgen werden oder gar die Frucht reifen und wachsen kann. Noch mischen sich massiv Ängste, Befürchtungen, neue Hoffnungen und neuer Mut. Was wird sein? Dass auf diese Frage die Antworten immer offener werden, ist eine große Überraschung. Noch vor zwei Monaten war es allgemeine Überzeugung: »Die« ändern sich nie. Und damit sah

Weitere Kostenlose Bücher