Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
Vom Netzwerk:
niemand irgendeine positive Zukunft. Nun, ob »die« sich geändert haben, wissen wir nicht. Worte allein machen es ja nicht. Aber das Tolle und Neue ist: Wir, das Volk, haben uns verändert und verändern uns jeden Tag mehr. Selbst, wenn morgen alles zu Ende wäre, es würde nie wieder so sein wie zu der Zeit, als ihr weggingt. Die stumpfe Lethargie und die dumpfe Wut verwandeln sich in Anderes. Zivilcourage zeigt
sich an Universitäten, in Betrieben, auf der Straße. Die Zeitungen werden lesenswert, das Fernsehen sehenswert. Die Politiker und die Geschäfte sehen noch genauso aus wie früher, aber das Volk steht auf und erlernt (mühsam) den aufrechten Gang.
    Am vergangenen Donnerstag habe ich zusammen mit jungen Berufstätigen und Studenten einen Gottesdienst gestaltet, der in St. Marien und St. Petri zugleich ablief. In Marien waren 6000 Menschen und noch 2000 vor der Kirche; in der PetriKirche waren an die 2000 Menschen. Danach kam es zum ersten Mal in Rostock zu einer spontanen Demonstration; es bildete sich ein Zug von etwa 6000 Menschen. Am nächsten Morgen weinte ich bittere Tränen der Trauer und Wut und mehrfach am Tag wieder. Ich musste immer an Dich denken, Christian, wie gerade Du all dies mit Deinen Sinnen und Kräften begrüßt, gesucht und unterstützt hättest. Ihr, Martin und Gesine, hättet euch genauso hineinbegeben, aber Christian hat eben am frühesten angefangen, sich zu empören, und so war er immerzu um mich. Ich war voller Wut und Schmerz, dass er dies alles nicht mehr erlebt, was sein Herz so bewegt hätte. Und so stieg meine Wut gegenüber denen, die uns die Kinder aus dem Land getrieben haben und noch Hohn und Spott, Schimpf und Schande äußerten für sie, die doch als Kinder uns das Liebste sind. Da ist das Fass für uns übergelaufen! …
    Übrigens: Ob ich wirklich im November nach West-Berlin fahre, weiß ich nicht. Hier ist es zur Zeit interessanter.
    Zwischen 1949 und 1989 setzten sich drei Millionen Menschen aus der DDR ab - etwa jeder Fünfte.

Wege - Suche - Wege
    M eine erste Pfarrstelle erhielt ich in einer der größten mecklenburgischen Landgemeinden, einem Verbund von vierzehn kleinen Dörfern rund um den Ort Lüssow, in der Nähe der Kreisstadt Güstrow. Das Pfarrhaus hatte uralte Fenster, allerdings hielten sie dicht. Es hatte uralte Holzfußböden, glücklicherweise ohne größere Schäden. Als Toilette diente ein Plumpsklo in einem Anbau am Hinterausgang - im Pfarrerübergabeprotokoll als doppelsitziger Eimerabort bezeichnet. Einst hatten dienstbare Geister die Eimer irgendwo draußen entsorgt, in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts musste der Pfarrer diese Aufgabe selbst übernehmen. In jedem Zimmer stand ein Kachelofen, auch im so genannten Gemeindesaal, einem fünf mal zehn Meter großen Raum, in dem Konfirmandenunterricht und Christenlehre stattfanden und im Winter, wenn die Temperatur in der Kirche unter Null fiel, auch Gottesdienste abgehalten wurden. Ein Anhänger voller Briketts wurde jedes Jahr vor unserem Hause abgeladen, mit Schubkarren und Kiepen haben wir die Kohle dann in ein halb verfallenes Stallgebäude neben dem Haus geschafft.
    Es gab kein fließendes Wasser, weder warm noch kalt, das kostbare Nass beförderten wir aus dem Grundwasser mittels einer Pumpe hoch. Sie befand sich glücklicherweise in der riesengroßen ehemaligen Küche, so dass wir bei Regen und Schnee nicht auf den Hof hinausmussten. Wir kochten auf einem Herd, der mit Propangas betrieben wurde, die Gasflaschen waren regelmäßig aufzufüllen. Bevor wir ein einfaches Bad einrichteten, haben wir uns in der Küche auch gewaschen.
    Wir bewohnten einen Flügel im Erdgeschoss - Kinderzimmer, Wohnzimmer und Schlafzimmer lagen zusammen, die Küche auf der anderen Hausseite war nur über den kalten Flur und den Gemeindesaal zu erreichen. Die ehemalige Speisekammer hatte mein
Vorgänger zum Amtszimmer umbauen lassen. Später erhielten wir noch ein kleines Gästezimmer unter dem Dach.
    Außer uns lebte im Pfarrhaus oben noch eine Flüchtlingswitwe aus Danzig-Langfuhr mit ihrem Sohn, im linken Flügel des Erdgeschosses wohnte eine Pastorenwitwe, deren Mann im Krieg gefallen war, ferner »Tante Lieschen«, eine leicht behinderte ältere Frau, und schließlich zwei Katechetinnen: zunächst Erna Schlussnuss aus Ostpreußen und nach ihr Karin Marquardt aus Mecklenburg. Jeden Tag waren diese beiden mit dem Fahrrad unterwegs in den verschiedenen Dörfern, wo sie die Kinder mit Hingabe in der

Weitere Kostenlose Bücher