Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Mochte sie auch hinter meinen Grundentscheidungen stehen, sie konnte und wollte nicht die Rolle einer traditionellen Pfarrfrau übernehmen, die als freiwillige, unermüdliche Helferin des Pastors rund um die
Uhr und unentgeltlich Dienst tut. Später würde sie ihr Maß an Engagement durchaus finden.
Die Landgemeinde verfügte über drei Gotteshäuser. In der Lüssower Kirche predigte ich jeden Sonntag um zehn Uhr, in den beiden anderen Kirchen lediglich einmal im Monat am Nachmittag. Später erhielt ich mit Parum eine weitere kleine Gemeinde hinzu, dort fanden alle 14 Tage ebenfalls nachmittags Gottesdienste statt.
Ursprünglich hatte ich ein Germanistik-Studium angestrebt, was in Rostock allerdings nur als Lehrerausbildung angeboten wurde. Meine Bewerbung um einen Studienplatz für Germanistik und Geschichte war im Grunde ein törichtes Unterfangen, da ich keine Empfehlung der Schule vorweisen konnte. Mit dem keineswegs herausragenden Leistungsdurchschnitt von 2,0 hätte ich nur Chancen gehabt, wenn ich Mitglied der FDJ gewesen und nicht verschiedentlich durch eigenwillige Äußerungen und einen Mangel an Disziplin aufgefallen wäre. Ich wurde, was vorauszusehen war, abgelehnt. »Im Allgemeinen lebhaft und interessiert«, hatte mir der Direktor der Goethe-Oberschule zwar bescheinigt, »mit guten Leistungen«, einer »guten Urteilskraft« und einem »ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden«. Aber die Internierung des Vaters, so der Direktor, hätte dazu beigetragen, dass sich der Schüler Gauck »im Stadium kritischer Auseinandersetzung mit der Umwelt« befinde. Die tröstlich klingende Prognose »bei richtiger erzieherischer Entwicklung ist er durchaus entwicklungsfähig« war in Wahrheit ein vernichtendes Urteil: »Auf Beschluss der Vorauswahlkommission wird er für das Studium (der Germanistik) nicht empfohlen.«
Ich wäre auch gern Journalist geworden, aber diese Berufswahl kam unter den herrschenden Verhältnissen erst recht nicht in Frage. Da ich zur Anpassung nicht bereit war, blieben nur drei Möglichkeiten: Ich konnte, erstens, eine Lehre anfangen und einen Beruf erlernen; ich konnte, zweitens, in den Westen abhauen, und ich konnte, drittens, Theologie studieren.
Als ich mit dem Theologiestudium begann, dachte ich nicht
daran, Pfarrer zu werden. Dafür kam ich mir viel zu weltlich vor. Theologie betrachtete ich eher als einen Zweig der Philosophie. Ich wollte prüfen, was ich bisher nur vermutet und andeutungsweise von Gott gewusst hatte, wollte mehr über mich und meinen Platz in der Welt erfahren und nicht zuletzt Argumente gegen die herrschende marxistische Ideologie gewinnen. Ich wählte das Studium also nicht, weil ich mich berufen fühlte, auf der Kanzel zu stehen und vom Reich Gottes zu künden, sondern eher aus persönlichen und politischen Gründen. Die theologischen Fakultäten waren der einzige Raum, der nicht dem unmittelbaren Zugriff des Staates und der Partei ausgesetzt war, ein Raum, in dem unabhängiges Denken möglich und die Existenz nicht an Unterordnung gebunden war.
Mein Weg zur Theologie war in der DDR nicht ungewöhnlich. Vor und nach mir haben sich viele aus ähnlichen Motiven für diesen Beruf entschieden - was das starke Engagement vieler Pastoren beim politischen Aufbruch 1989 erklärt. Aus meiner Klasse sind außer mir noch sechs weitere von 28 Abiturienten diesen Weg gegangen. Sabine Pauli, die Klassenbeste mit einem Notendurchschnitt von 1,0, war nicht zum Medizinstudium zugelassen worden, da auch sie kein FDJ-Mitglied war. Zwar wurde ihr nach vielen Protesten ein Studienplatz zugestanden, aber Sabine entschied sich angesichts der Umstände gegen eine Karriere im Staatsdienst, wählte Theologie und hat später als Privatdozentin an der Theologischen Fakultät der Rostocker Universität geforscht und gelehrt. Martin Kuske, Hanns-Peter Schwardt und ich wurden evangelische Pastoren. Eine Mitschülerin ist katholische Katechetin, ein Mitschüler katholischer Diakon geworden. Der siebte Abiturient, der Theologie wählte, wechselte nach dem Studium in den Beruf des Försters.
Anders als die elterliche oder die staatliche Autorität bot der Glaube die Möglichkeit, sich einer Wahrheit anzuvertrauen, die von niemandem befohlen und von niemandem genommen werden konnte. Er vermittelte eine geheimnisvolle Kraft, die uns befähigte, den Minderheitenstatus durchzuhalten, mutig zu bleiben,
wo andere sich schon angepasst hatten, und Anständigkeit, Treue und Glauben für wichtiger zu
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