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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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nicht mehr mit ihm. Da sprach Jesus zu den Zwölfen: Wollt ihr auch weggehen? Da antwortete ihm Simon Petrus: Herr wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.«
    In diesen Momenten dachten wir nicht mehr daran, wann wir den ersten Kuss oder wann wir die erste Eins in Mathematik bekämen, wir spürten vielmehr: Ja, es kann geschehen, auch du könntest Worte hören, die dich leben lassen, die Leben geben.
    In Situationen wie diesen hat mich angerührt, was ich später wunderbar beschrieben fand bei dem Propheten Elia im Alten Testament: Es kam ein gewaltiger Sturm - »aber der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Erdbeben ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Erdbeben das Flüstern eines leisen Wehens« - und Elia trat hinaus vor seine Höhle und verhüllte sein Haupt, denn Gott sprach zu ihm. Nicht im Überwältigenden spürte Elia die Nähe Gottes, der Ewige begegnete ihm vielmehr im vorbeiziehenden Hauch - sanft und unmittelbar. Hatten nicht auch wir in unserem kargen Gemeinderaum diesen Hauch gespürt? Wiederholte sich nicht, was mir bereits in der Garage von Herrn Joneleit widerfahren war und was seine Fortsetzung
finden würde in den Begegnungen mit Themen und Menschen, Zeugen des Ewigen, der verborgen und gleichermaßen offensichtlich auch mich gemeint hatte?
    Für mich wurde die Junge Gemeinde auch wichtig, weil ich hier erstmals auf Literatur stieß, die sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte. Ich las das Antikriegsstück von Wolfgang Borchert »Draußen vor der Tür«, die Geschichte eines kriegsversehrten Heimkehrers, der vom Vaterland betrogen, von seiner Frau verlassen und von der Nachkriegsgesellschaft ausgeschlossen wird. Ich las »Das Brandopfer« von Albrecht Goes, die Erzählung über eine einfache Metzgersfrau, die zur Zeugin der Judenvernichtung wird und sich schuldig fühlt durch Unterlassen. Und ich sah im Volkstheater Rostock eine Dramatisierung des Tagebuchs von Anne Frank, jenes jüdischen Mädchens, das so lebensbejahende, hoffnungsvolle Sätze formuliert hatte und dann doch verraten und umgebracht worden war - von Deutschen.
    Jüdische Opfer waren mir bis dahin kaum begegnet, da der offizielle Antifaschismus vor allem kommunistische und nur einige wenige sozialdemokratische Opfer kannte, vielleicht noch die Geschwister Scholl. Es begann eine Krise in meinem Denken und Glauben - in der Haltung gegenüber dem eigenen Volk, gegenüber der Aufklärung, der veredelnden Kraft der Kultur. Alles, was dem jungen Mann wichtig gewesen war, geriet ins Wanken.
    Meine Eltern haben wie wohl fast alle Eltern beteuert: »Wir haben von alledem nichts gewusst.« Beide waren Mitglieder der NSDAP gewesen, keineswegs Fanatiker, aber Mitläufer. Eingenommen von den sozialpolitischen Erfolgen des Regimes hofften sie später auf den Endsieg. Mein Vater war nicht an der Front gewesen, doch er muss im besetzten Polen einiges mitbekommen haben. Im Nachhinein glaube ich, dass sich meine Eltern wie so viele andere zu schützen suchten, indem sie von den Einzelbeispielen nicht aufs Ganze schlossen und auf keinen Fall mehr wissen wollten, als sie in ihrer unmittelbaren Umgebung zwangsläufig mitbekamen. Ende der sechziger Jahre habe ich ihnen das
Buch »Der gelbe Stern« auf den Tisch gelegt, einen eindringlichen Dokumentarbildband über die Judenverfolgung mit zweihundert Fotos und kurzen, erläuternden Texten. Sie sagten, sie hätten nichts gewusst.
    Erst ein Jahrzehnt später, 1978/79, als im Westfernsehen die amerikanische Holocaust-Serie über die Geschichte der Familie Weiss lief, sah ich Tränen in ihren Augen. »Wie konnte denn so etwas passieren?« Erst jetzt erzählten sie mir von den Rostocker Juden, von Kaufhausbesitzern, Fabrikanten, Juristen, Ärzten, Rechtsanwälten, einem Stadtverordneten und auch von Klassenkameraden. Das Kaufhaus Wertheim in der großen Kröpeliner Einkaufsstraße war während des Pogroms in der »Reichskristallnacht« 1938 zerstört und geplündert worden, ähnlich der Schuhladen Fischelin in der Schmiedestraße, das Kaufhaus Kapeda in der Lohgerberstraße und das Uhrengeschäft Paula Block in der Doberaner Straße. Die Synagoge in der Augustenstraße war ein Raub der Flammen geworden. Von den 320 Mitgliedern, die die Jüdische Gemeinde 1932 umfasst hatte, haben 120 die Vernichtung nicht überlebt, die Übrigen sind emigriert. Die Rostocker hatten mit ihnen gelebt, es war nicht

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