Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
Vom Netzwerk:
Christenlehre unterrichteten, dem von der Kirche erteilten Religionsunterricht für die Grundschüler.
    Freunde und Verwandte, die uns besuchten, waren - je nach Jahreszeit - begeistert oder entsetzt. Im Winter erschien ihnen unser Landleben vorsintflutlich und unzumutbar, im Sommer die reinste Idylle. Im Garten zogen wir neben Blumen auch Kartoffeln, Tomaten, Erdbeeren, Erbsen, Möhren, grüne Bohnen, Gurken, Salat und Spinat, so dass wir uns weitgehend selbst versorgten. Manchmal kamen Rehe bis an unser Grundstück, auf der alten Pfarrscheune gegenüber hatten sich Störche ein Nest gebaut. Noch nie hatten die Kinder in der Stadt Störche klappern hören. Für sie war das Landleben am schönsten. Die beiden Jungen spielten bei Wind und Wetter draußen, sommers liefen sie barfuß. Sie tobten in Wiesen, Wäldern und an dem kleinen Wasserlauf auf unserem Grundstück, in dem kleine Fische schwammen, auf die sich manchmal kopfüber ein Eisvogel stürzte.
    Den jungen Pastor haben die äußeren Bedingungen genau so wenig angefochten wie das äußerst bescheidene Gehalt, das die Kirche zu zahlen vermochte. Er fragte auch nicht nach den Gefühlen seiner jungen Frau, die unter diesen Bedingungen drei Kinder aufzuziehen hatte. Am Anfang unserer Liebe hatte ich mich als Beschützer dieses scheuen Wesens gefühlt, dessen Gesichtszüge verrieten, was ich erst viel später in seiner ganzen Dimension begreifen konnte. Hansis Familie stammte aus Königsberg, der ostpreußischen Hauptstadt. Im Krieg waren die Großeltern mit ihrer
Schwiegertochter und der Enkelin in den Böhmerwald evakuiert worden. Hier wurde im Februar 1945 Hansis Schwester Bruni geboren. Bereits wenige Wochen später, während der Vertreibung aus der Tschechoslowakei, ist das Baby verhungert. Ob es einfach am Straßenrand abgelegt oder auf einem Friedhof begraben wurde, hat die fünfjährige Hansi nicht in Erinnerung behalten. Dafür ist ihr Prag in Erinnerung geblieben, wo der Zug der Flüchtlinge beschimpft, geschlagen, mit Steinen beworfen und das Gepäck der Deutschen von einer Moldaubrücke ins Wasser geworfen wurde. Sie flohen mit dem, was sie am Körper trugen, so weit sie irgend konnten, bis an die See, die Ostsee bei Warnemünde.

    Die drei »Großen« als Kleine: Christian (7), Martin (5) und Gesine (noch kein Jahr) im Pfarrhaus auf dem Land in Lüssow. Strahlende Augen. Zu Hause sein, alle sind da, die man braucht. Und morgen gibt es wieder sehr viel Neues zu entdecken. Große Augen.

    Zunächst wurden sie bei einer hartherzigen Witwe untergebracht, irgendwann konnten sie in eine größere Wohnung umziehen, dann kam der Ernährer aus der Gefangenschaft zurück. Aber der Mann war gebrochen; aus dem ehemaligen Besitzer eines Kolonialwarenladens wurde ein Angestellter auf der Werft. Die Mutter fand sich nicht zurecht in der Fremde, nicht mit ihrem Mann, nicht mit dem Leben. Eines Tages, als die zehnjährige Hansi von der Schule nach Hause zurückkehrte und die Wohnungstür aufschloss, fand sie den Menschen, der noch am Morgen ihre Mutter gewesen war und schon seit Jahr und Tag davon gesprochen hatte, aus dem Leben zu scheiden, tatsächlich tot. Da grub sich in die Kinderseele eine böse, nie zu löschende Erfahrung: Wo ich lebe, lebt das Glück nicht. Sie war nicht wie andere Kinder, spielte nicht unbeschwert wie jene, wurde trotzig und verschlossen. Und ich, der ich ihre Abgründe spürte, glaubte mich berufen, sie vor kommendem Unheil zu schützen. Das heimatlose Kind von einst sollte endlich ein Zuhause haben, das die Liebe gebaut hatte.
    Kurz nach Studienbeginn heirateten wir. Mein Vater war so entsetzt, als ich ihn davon in Kenntnis setzte, dass er drohte, der Hochzeit fernzubleiben. Wie konnte der Junge nur mit neunzehn Jahren heiraten? Und dazu noch eine junge Frau, die nicht selbstbewusst, nicht wortgewandt und frech war wie seine eigenen Kinder? Am Ende machte er seine Drohung doch nicht wahr und erschien auf Druck meiner Mutter zu unserer Trauung in der Rostocker Klosterkirche. Ein gutes Jahr später kam unser erster Sohn Christian zur Welt, der zweite Sohn Martin 1962.
    Inzwischen war es zwar Hansi, die die Verantwortung für eine fünfköpfige Familie übernommen hatte, denn während ich noch studierte, verdiente hauptsächlich sie das Geld. Aber die Scheue, Ängstliche, mir liebevoll Zugewandte und zu mir Haltende war nicht darauf vorbereitet, als »Frau Pastor« in ein Leben zu treten, das ganz allein durch meine Berufswahl geprägt war.

Weitere Kostenlose Bücher