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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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halten als Wohlstand, Karriere oder öffentlichen Erfolg.
    Mein Vater hat meine Berufswahl zunächst nicht gutgeheißen. Wenn seine Kinder Offizier, Schauspieler oder Pastor werden sollten, hat er mehrfach in der ihm eigenen bissigen Weise erklärt, würde er Widerspruch anmelden. Warum? »In diesen Berufen fällt das Mittelmaß besonders auf.« Dabei hätte man aufgrund seiner politischen Haltung und des neuen Zugangs, den er in der Haft zum Glauben gefunden hatte, eigentlich Verständnis erwarten können.
    Mein Elternhaus war nicht besonders religiös. Aber die Zeit und verschiedene Menschen führten uns Kinder näher an Glaube und Kirche heran. Selbstverständlich ging ich als Junge zu Herrn Joneleit in die leer stehende Garage in unserer Straße. Auf den kargen Holzbänken saßen Woche für Woche zwanzig bis dreißig Kinder. Der stoppelbärtige, vielleicht vierzigjährige Mann mit dem traurigen Blick und dem knurrenden Magen erzählte dann von wunderbaren Dingen und rätselhaften Fernen. Ich hörte fremde Namen wie Esau und Moses, hörte von der Schlange im Paradies, von Jerusalem, der Stadt auf dem Berg. Zum ersten Mal sprach mir ein Erwachsener von Gott so, als könnte ich ihm begegnen wie einem Menschen.
    Wenn er erzählte, wichen Traurigkeit, Hunger und Kälte aus Herrn Joneleit, und für kostbare Minuten wurde er ein Bote. Gott beschrieb er als einen liebenden, fürsorglichen Vater. Für uns war das eine Offenbarung. Viele Väter waren gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft, und die bereits heimgekehrten verhielten sich oft herrschsüchtig, prügelten und betranken sich oder wussten alles besser. Wenn Herr Joneleit sagte, dass Jesus nicht nur Mensch, sondern auch göttlich sei, wandelte sich die Garage zur »Hütte Gottes bei den Menschen«, und Gott war in den Augen und Worten seines Zeugen. In diesen Augenblicken fühlten sich die Flüchtlingskinder heimisch und die Hungrigen satt.
    Eines Tages verschwand Herr Joneleit. Wir aber blieben getröstet
von dem Licht, das er in unseren Seelen entzündet hatte mit den Geschichten vom Überleben, vom Auferstehen, von dem Kind im Weidenkörbchen, das ausgesetzt ist zum Ertrinken, aber von einer Prinzessin gefunden wird und zum großen Führer seines Volkes heranwächst. Wie kann man solche Geschichten je vergessen, wenn man ein vielleicht hungriges, vielleicht heimatloses, vielleicht bedürftiges Kind war in der Garage?
    Als Oberschüler ging ich Mitte der fünfziger Jahre in die Junge Gemeinde von Sankt Jacobi, unserer Nachbargemeinde. Die Gruppe war relativ klein. Viele Jugendliche hatten sich eingeschüchtert zurückgezogen oder waren ausgereist, nachdem die SED 1952/53 versucht hatte, den Einfluss der Kirche zu unterbinden und dabei vor allem gegen die Jungen Gemeinden vorgegangen war mit der Begründung, es handle sich dabei um eine illegale »Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage«, gesteuert und finanziert vom Westen. Das Bekenntniszeichen der Jungen Gemeinde, ein Kreuz auf der Weltkugel, auch »Kugelkreuz« genannt, wurde verboten, etwa 3000 Schüler und Studenten wurden von den Schulen und Universitäten verwiesen.
    Genaueres von den damaligen Ereignissen erfuhr ich später in Güstrow, wo mein Onkel Gerhard Domprediger war. In der dunklen, holzgetäfelten Aula der John-Brinckman-Oberschule, die Uwe Johnson in seinem Roman »Ingrid Barbendererde« beschrieben hat, war öffentlich vor allen Lehrern und Schülern von FDJ-Funktionären Anklage erhoben worden gegen »Rädelsführer« der Jungen Gemeinde, die »unter religiöser Maske« Spionage für den »amerikanischen Imperialismus« betrieben hätten. Helmut Zeddies aus der zwölften Klasse, Ingrid Reincke aus der elften und Gisela Kugelberg aus der zehnten Klasse waren mit sofortiger Wirkung der Schule verwiesen worden; kein Lehrer hatte sie vor den willkürlichen und absurden Anschuldigen in Schutz genommen, und die Schülerschaft hatte den Rauswurf mit übergroßer Mehrheit gebilligt.
    Dass Zeddies doch noch zum Abitur zugelassen wurde, verdankte er dem großen Bruder in Moskau und den mutigen Eltern
in Güstrow. Den Mitgliedern der Jungen Gemeinde sei Unrecht geschehen, hatte die SED-Zeitung Neues Deutschland am 10. Juni 1953 im Rahmen der Politik des »Neuen Kurses« einräumen müssen. Die aggressive Taktik des »Kirchenkampfes« war von Moskau missbilligt worden. Zeddies konnte wie alle Relegierten an die Schule zurückkehren. Und da empörte Eltern in Güstrow die Schulleitung

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