Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
möglich, ihr Verschwinden nicht zu bemerken, aber sie hatten es sich nicht zu Herzen genommen. So gelangte es wohl nicht in ihre Köpfe, was sie damals hätte irremachen können, und so war es aus der Erinnerung entfallen.
Über die Junge Gemeinde stieß ich auf Menschen, die über den Glauben, über persönliche Beziehungen zu Überlebenden oder über die Literatur ihren Weg zum Antifaschismus gefunden hatten. Ich hörte vom Märtyrertod des Paters Maximilian Kolbe in Auschwitz; ich stieß auf Mitglieder der Bekennenden Kirche und auf Literatur von Dietrich Bonhoeffer, der sehr früh Kritik am Führerkult geübt und von der Kirche Widerstand gefordert hatte: »Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.« Anders als viele in der Bekennenden
Kirche verteidigte Bonhoeffer nicht nur die getauften Juden, sondern das gesamte Judentum: »Den Christen rufen nicht erst die Erfahrungen am eigenen Leibe, sondern die Erfahrungen am Leibe der Brüder, um derentwillen Christus gelitten hat, zur Tat und zum Mitleiden.«
Bei Bonhoeffer fühlte ich mich bestärkt in der Vorstellung von einem Gott, »der aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will«, fühlte mich auch bestärkt in der Hoffnung, dass der Mensch bei Gott beheimatet ist und in ihm als Vater immer eine letzte Zuflucht hat. Ich fühlte mich wie der verlorene Sohn, der hinauszieht in die Welt, sein Geld verprasst, bei den Säuen landet und schließlich, als er als Gescheiterter zurückkehrt, nicht verstoßen, sondern mit offenen Armen empfangen wird. Der Vater duldet ihn nicht nur, er veranstaltet ein Fest. Und der Nichtswürdige, der sich seiner Macht entzogen hat, wird wieder aufgenommen in die Geborgenheit des Hauses, weil über allem nicht nur ein richtendes Schicksal, sondern die Liebe waltet.
Doch selbst eine solche Geborgenheit löst nicht alle Schwierigkeiten des Alltags, und schon gar nicht behebt sie automatisch individuelle Mängel. Ich war kein ordentlicher Student, sondern habe mein Studium nur mit Mühe absolviert. Das lag weniger an mangelnder Begabung als an meiner Undiszipliniertheit. Alles war mir wichtiger als das Studium. Ich spielte Handball und gründete mit Kommilitonen eine Handballsektion; das absorbierte einen großen Teil der Zeit. Hinzu kam, dass mich meine Familie voll in Anspruch nahm, so dass es mir nie an Begründungen mangelte, warum ich die Vorlesungen nicht besuchen und nur schlecht vorbereitet zu den Seminaren erscheinen konnte. Nach mehreren Semestern partieller Lernverweigerung türmte sich das Abschlussexamen wie eine unüberwindbare Barriere vor mir auf. Tatsächlich schaffte ich den Abschluss erst mit Mühe und nach zweimaliger Studienverlängerung.
Die Theologische Fakultät war damals eine eigentümliche Welt. Gemeinsam mit den fünf weiteren theologischen Fakultäten in Berlin, Greifswald, Halle, Jena und Leipzig konnte sie nach dem
Krieg weiter bestehen, obwohl sie zunächst nur über zwei Lehrkräfte verfügte. Allmählich wurde den Landeskirchen der Einfluss aber entzogen. Wir Theologiestudenten mussten regelmäßig mit den Lehrerstudenten an den Vorlesungen und Seminaren des Lehrstuhls für Marxismus-Leninismus teilnehmen. Glücklicherweise ist es nie gelungen, die Theologische Fakultät Rostock von »fortschrittlichen«, parteifreundlichen Professoren bestimmen zu lassen. 1961 verweigerte Heinrich Benckert, Professor für systematische Theologie und Dekan der Theologischen Fakultät, die Unterzeichnung einer Senatserklärung, die den Mauerbau und die Wiederaufnahme der Atomversuche durch die UdSSR guthieß; einige Jahre später ließ sich der Neutestamentler Professor Konrad Weiss nicht dazu bewegen, die Gemeinschaft mit den Christen und der »NATO-Kirche« in der Bundesrepublik aufzukündigen, und 1968 lehnten es der Dekan Professor Ernst-Rüdiger Kiesow und der Oberassistent am neutestamentlichen Institut Dr. Peter Heidrich ab, dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR zuzustimmen.
Der Protest der Theologischen Fakultät gegen die geplante Umbenennung der Rostocker Universität in Wilhelm-Pieck-Universität ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Es gab schon Ansichtskarten mit dem neuen Namen - ich habe bis heute eine aufbewahrt. Anfang Januar 1961 begann Professor Benckert eine Vorlesung mit der
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