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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Geschehenen verborgen. Doch obwohl der Glaube eigentlich unvernünftig - richtiger: neben-vernünftig - ist, erkläre ich mir die Welt leichter mit Gott als ohne Gott.« Beides ist schwer: zu glauben und nicht zu glauben. Doch auch wenn mein Glaube mir keine fraglose Sicherheit bringt, teile ich mit anderen Glaubenden die Erfahrung, dass die geistliche, die Beziehungswahrheit, von der wir irgendwann an irgendeiner Stelle unseres Lebens getroffen wurden, die disparaten Wahrheiten des Lebens und den Glanz der Logik überbietet.
    Als ich die Angst verlor, vom Zweifel verschlungen zu werden,
wuchs die Ermächtigung. Ich floh nicht mehr vor solchen Situationen, musste auch nicht mehr bangen, ob jemand meine Flucht vor einer möglichen Verzweiflung bemerkt. Ich hatte mich über den Zweifel hinweg geglaubt, war vom idealistisch überhöhten Glauben zu einem Glauben trotz alledem gelangt.

Aufbruch in ein Missionsland
    M eine Frau Hansi hatte als Lehrling im volkseigenen Buchhandel in Rostock die Gelegenheit genutzt, einer Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft beizutreten. Wir zahlten mehrere Jahre lang Genossenschaftsanteile ein, ich erbrachte - was ebenfalls obligatorisch war - »manuelle Arbeitsleistungen« auf Baustellen, und so wurde uns schließlich eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung im Neubaugebiet von Rostock-Evershagen zugeteilt. Ich bat daraufhin um meine Versetzung. Obwohl die mecklenburgische Kirchenleitung noch nicht so recht wusste, wie sie mich einzuschätzen hatte, erlaubte sie mir zu wechseln, denn sonst erhielt die Kirche nie die Chance, im Neubaugebiet präsent zu sein. Die SED-Führung hatte keinerlei Interesse daran, hier Genehmigungen für den Bau von Kirchen, Pfarr-und Gemeindehäusern zu erteilen. Nicht einmal Wohnungen waren in den Neubaugebieten frei zu kaufen.
    Der Umzug war ein Schock, vor allem für die Familie. Auf dem Dorf konnten die Kinder draußen herumtollen, jetzt hockten wir zu fünft auf 85 Quadratmetern, dem DDR-Durchschnitt für diese Familiengröße. Mein »Amtszimmer« bestand aus einem schmalen Bücherbord mit Schreibplatte im Wohnzimmer. Der wuchtige Schreibtisch und der Bücherschrank der Großmutter mussten durch die üblichen Standardmöbel ersetzt werden - die Erbstücke wären nicht durch die Tür gegangen.
    Es gab schon Kaufhallen, auch Kinderkrippen und Schulen, aber für 22 000 Menschen in mehr als 8000 Wohnungen kein einziges Kino und nur ein oder zwei Gaststätten. Die Bebauung bestand aus eintönigen, meist fünfgeschossigen Häusern ohne Fahrstuhl. Konnten wir auf dem Land einfach aus dem Haus ins Freie treten, hieß es jetzt, jeden Tag mehrfach sechs Treppen hinauf und hinunter zu laufen; wir wohnten im obersten Stock.

    Von den Mietern wurde die Einhaltung fester Regeln erwartet. Wie alle anderen hatten wir einmal im Monat den gemeinsamen Hausflur nebst den Eingangstreppen zu putzen; der Aufgang zur eigenen Etage war sowieso die Sache jeden Mieters. Ferner waren wir verpflichtet, unsere Besucher im obligatorischen Hausbuch einzutragen, in dem wir uns beim Einzug hatten registrieren müssen und das in regelmäßigen Abständen an die Volkspolizeimeldestelle weitergeleitet wurde. Bei den Ostbesuchern haben wir die Aufforderung wie die meisten anderen schließlich ganz ignoriert, wenn wir Besuch aus dem Westen hatten, haben wir ihr hin und wieder Folge geleistet.
    Damit war unsere Anpassungsbereitschaft erschöpft. Die Beflaggung des Hausaufgangs am 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse, am 7. Oktober, dem Gründungstag der DDR, und selbst am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, wollten wir nicht mitmachen. Statt für die übliche rote Flagge oder die Republikfahne, schwarzrotold mit Emblem, hatte sich unsere Hausgemeinschaft für eine besonders auffällige Variante entschieden: eine riesige, über zwanzig Meter lange Fahne vom fünften Stock bis zum Erdgeschoss an der Außenseite des Treppenflurs. Doch wir, die Pastorenfamilie, sagten nein. »Haben Sie denn wenigstens eine eigene Fahne?«, fragten die Volkspolizisten und andere staatsnahe Bewohner unseres Hausaufgangs sichtlich befremdet. Nein, wir hatten noch nie eine Fahne besessen und wollten auch keine anschaffen. Da waren die Verhältnisse klar. Die meisten gingen auf Distanz, die Familie des Seemanns im Stockwerk unter uns hingegen freute sich. Er selbst hätte sich nicht getraut, nein zu sagen, gestand uns der Mann, zumal seine Frau Lehrerin war. Aber es war ihm recht, wenn andere es wagten zu

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