Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
eindringlichen Bitte an uns, von Kundgebungen jeder Art abzusehen. Doch als er mitteilte, dass der Antrag zur Umbenennung der Universität nicht zuletzt aufgrund des Widerspruchs der Theologischen Fakultät zurückgenommen worden sei, brach ein tumultartiges Gejohle aus. Es hat noch fünfzehn Jahre gedauert, bis die SED die Umbenennung tatsächlich durchsetzen konnte.
Als ich die Universität verließ, hatte ich die Entscheidung für den Beruf des Pfarrers noch immer nicht getroffen. Dieser Entschluss ist in mir erst im Vikariat, in den Begegnungen mit den Menschen der Gemeinde gereift. Ich war damals in der Kleinstadt Laage bei Rostock eingesetzt. In der Anfangszeit hatte ich große
Ängste: Ob ich tief genug glaubte, ob ich den Menschen ein Vorbild sein könnte, ob mich die Zweifel am Glauben nicht verunsichern würden? Doch dann haben die Menschen mich auf sehr unterschiedliche Weise in den Beruf und auch tiefer in den Glauben hineingezogen.
1966 als Vikar in Laage: Ein Pastorenlehrling hat schon viel studiert, aber noch wenig erlebt. Hier kommt er gerade aus dem Hinterausgang des alten Pfarrhauses von Pastor Frahm. Hoffentlich will Frau Pastor ihn nicht zu Gartenarbeiten anstellen.
Meine Predigten sind anfangs zu akademisch gewesen. Einmal hatte ich meinen Text nicht vollständig ausformuliert, so dass ich nach der ersten Hälfte frei weiterreden und hinzufügen musste, was ich als eisernes Glaubenswissen in mir hatte. Ich fühlte mich tief beschämt, weil ich eine so heilige Sache wie die Predigt wie eine lästige Schulaufgabe behandelt hatte. Doch hinterher lobte mich einer der Kirchenältesten: »Sehen Sie, Herr Vikar, heute ging es doch schon ganz gut!«
Schritt für Schritt lernte ich, dass es wichtiger ist, von Menschen verstanden zu werden, als einen geschliffenen Text vorzutragen, den man unter Umständen unter großer Anstrengung bis spät in die Nacht erstellt hat und auf den man wegen der literari-schen
Zitate und Anspielungen so stolz ist, dass man ihn am liebsten in einer Zeitschrift veröffentlicht sähe. Ein Blick auf die Gemeinde genügt, um zu sehen, ob ein Text wirklich an diesen Ort passt oder nicht: Vielleicht sitzen nur acht Leute im Kirchenschiff, zwei einfache alte Damen, eine Analphabetin, ein Quartalssäufer, ein Schmied, die Ehefrau des Pastors, die Katechetin und ein Kirchenältester.
Sonntag, gleich geht es in die Kirche. Auch ein Pastorenlehrling muss schon Gottesdienste halten. Sohn Martin ist mit seiner Mutter zu Besuch gekommen. Das erste Mal sieht er seinen Vater im Talar: Ist das wirklich mein Papa?
Im Vikariat begann ich zu begreifen, dass es konkrete irdische Herausforderungen zu bewältigen galt, bevor man an die Lösung der Welträtsel ging. Beispielsweise in Laage, wo die Konfirmanden von einem sehr anständigen und sehr treuen, aber ein wenig altmodischen Pastor betreut wurden, der sich den Jugendlichen gegenüber hilflos verhielt und froh war, wenn ich ihm half, die Disziplin aufrechtzuerhalten. Damals dachte ich: Diese Jugendlichen könnte man auch anders ansprechen. Ich begann von einer eigenen Gemeinde zu träumen und bekam Lust, mich dort auszuprobieren.
Manches ging dann leichter als erwartet. Schon ein Jahr, nachdem ich meine erste Pfarrstelle in Lüssow angetreten hatte, meldete eine Lehrerin der Kreisdienststelle der Stasi in Güstrow: »Seit Einführung der Jugendweihe hatte die Schule, zu der auch der Einzugsbereich Lüssow gehört, 100 % Teilnahme an der Jugendweihe. Seitdem der Gauck im Jahre 1967 nach Lüssow zugezogen ist und seine Tätigkeit aufgenommen hat, ist ein spürbarer Rückgang an Jugendweiheteilnehmern zu verzeichnen. Gauck versteht es durch gute Umgangsformen, Organisierung von Zusammenkünften am Wochenende, Fahrten in die Umgebung usw. Einfluss besonders auf die Mädchen der 7. und 8. Klasse auszuüben.«
Für Orientierungs-und Heimatlose mag schon das Bisschen, das ich an Glauben und Wissen gelernt hatte, viel gewesen sein. Ihnen konnte ich Überlebenshilfe und Halt bieten, hier war ich der Gebende. In anderen Fällen aber wurde ich der Nehmende. Da begegneten mir Menschen, oft Flüchtlinge aus Bessarabien oder Hinterpommern, einfache Menschen mit einer schlichten Sprache und schlichten Umgangsformen, die mit ihrem Gott lebten, die täglich beteten, die regelmäßig die Bibel lasen und aus einer Kraft heraus handelten, die ich erst noch erlangen wollte. Angesichts ihrer Glaubensfestigkeit verstummte der akademisch gebildete junge
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