Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Mann, der ihnen rhetorisch und an theologischem Wissen weit überlegen war. Ich stand vor ihnen wie ein armer Bettler, weil ich die Kraft, die Güte, die Treue nicht kannte, die diese Menschen ausstrahlten. Ich trat in Beziehung zu einer Lebenswelt, in der nicht ständig kritisch gefragt wurde, ob der Glaube tragbar sei, ob er dem Zweifel standhielte. Vielmehr lebten mir diese Menschen vor: »Ja, das Leben mit Gott ist ein gangbarer Weg, du kannst dich darauf verlassen.« Die Flüchtlinge aus Bessarabien gaben mir ein Beispiel, dass die Anfechtungen durch den Zweifel und das Unheil in der Welt zu ertragen waren, und so verloren sie ihre teuflische, gegengöttliche Kraft.
Die Wahrheit, die ich in der Begegnung mit solchen Menschen kennen lernte, war eine Beziehungswahrheit, die die Faktenwahrheit
überbot. Ich lernte, dass das kritische Denken nicht das Wichtigste, nicht die letzte Wahrheit ist in meinem Leben. Das kritische Denken mag damit nicht zufrieden sein, aber es zieht oft gegenüber der Kraft, die aus Glaube und Liebe erwächst, den Kürzeren, denn das kritische Denken rechnet, während der Glaube Vertrauen ins Dasein schafft. Das Credo quia absurdum , dieses scheinbar widersinnige Bekenntnis: »Ich glaube, weil es unvernünftig ist«, ist dann kein Argument gegen den Glauben, sondern beschreibt eine Wirklichkeit, die komplexer ist als ein von der Logik bestimmtes Weltbild. Der Glaube streitet dann nicht mit der Ratio, er existiert neben ihr.
Ich kam von der Universität als ein Mensch, der sich ständig selbst in Frage stellte und seine Unsicherheit durch ein forsches Auftreten kompensierte. In der Begegnung mit den Gemeindemitgliedern aber habe ich die Angst verloren, vom Zweifel verschlungen zu werden. Ich konnte geistlich wachsen und selbst etwas ausstrahlen. Ich lernte, dass Glaube eigentlich ein Dennoch-Glaube ist, ein Glaube auch gegen den Augenschein; und dass es erlaubt ist, mit dem Zweifel in den Kreis der Glaubenden einzutreten, auch mit dem Zweifel zu leben und zu predigen. Ohne diese Erfahrung hätte ich das Leben als Pastor wohl nicht ausgehalten, denn oft gelangte ich an die Grenzen meiner theologischen und menschlichen Möglichkeiten.
Einmal, es war Sommer, sollte ich in einem Außendorf von Lüssow eine Trauung vollziehen. Ich wollte gerade auf mein Dienst-Motorrad steigen, da erreichte die Kirchengemeinde der Anruf einer Polizeidienststelle: Man müsse mir mitteilen, dass Herr S. auf dem Weg zu seiner Hochzeit tödlich verunglückt sei. Ob ich es nicht übernehmen könne, im Haus der Braut Bescheid zu sagen? Es öffnete die Mutter der Braut, die junge Frau in Weiß stand hinter ihr, erwartungsvoll, aufgeregt, strahlend. Sie nahm an, dass ich gekommen sei, um mit ihr die letzten Absprachen vor der Trauung zu treffen. Ich aber sagte: »Ihr Verlobter wird nicht kommen.«
In Augenblicken wie diesen wird ein Denken mächtig, das alle
kennen und alle gleich verstört: Es gibt keinen Gott, »der alles so herrlich regieret«, wie es in dem bekannten Loblieb heißt. Das kann nicht sein: ein Gott, der allmächtig ist und gleichzeitig solche Dinge geschehen lässt! Gott lässt sich mit dem Bösen in der Welt nicht vereinbaren. Entweder will Gott das Böse beseitigen und kann es nicht - dann ist Gott schwach. Oder er kann es, doch er will es nicht - dann ist Gott missgünstig. Ein schwacher wie ein missgünstiger Gott aber widersprechen der Vorstellung von seiner Güte und Allmächtigkeit. Im 20. Jahrhundert ist diese alte Frage mit einer neuen Schärfe gestellt worden: Kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben? Nicht die schlechtesten Theologiestudenten sind gescheitert, weil sie verzweifelt keinen Glauben fanden, der neben ihrem zweifelnden Wissen leben konnte.
Vielleicht ist es einfach ein Wunder, wenn sich ein Weg des Dennoch eröffnet. Wie an dem Tag, an dem ich erfuhr, dass ein siebzehnjähriges Mädchen aus meiner Jugendgruppe Suizid begangen hatte. Oder wie an dem Tag, als mir berichtet wurde, dass ein junger Mann aus meiner Gemeinde während seines Dienstes in der Nationalen Volksarmee unter mysteriösen Umständen gestorben sei. Seine Mutter durfte den Sarg nicht öffnen, um ihren Sohn ein letztes Mal zu sehen, und konnte gar nicht sicher sein, dass er sich auch wirklich darin befand.
Solche Situationen ließen sich nur aushalten, weil ich mir eingestand: »Ich bleibe stehen vor dir, Gott, und vor euch, ihr Trauernden, obwohl ich überfordert bin. Mir, uns bleibt der Sinn des
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