Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
widersprechen; seine Kinder hatten zu meinen ein herzliches Verhältnis.
Das Gefühl, eine »Hausgemeinschaft« zu sein, wollte sich weder in unserem noch in den meisten anderen Neubaublöcken richtig einstellen. Es hieß zwar: Es wäre doch schön, wenn die zehn, elf Familien unseres Aufgangs gemeinsam etwas unternehmen würden, doch kaum einer wollte die Nachbarn zu sich in die
Wohnung lassen. Erstens waren die Zimmer zu klein, und zweitens achtete man sehr genau darauf, mit wem man Umgang pflegte. Um dem Anspruch dennoch Genüge zu tun, wurden die Wände des Wäschekellers im Souterrain tapeziert, Hocker sollten dem Raum einen Hauch von Wohnlichkeit verleihen. Dass dort jemals gefeiert wurde oder Teile der Hausgemeinschaft gesellig zusammensaßen, bezweifele ich. Wir trafen uns mit den anderen Hausbewohnern nur, um abzusprechen, wie der Putzdienst aufzuteilen sei, wer Hausvertrauensmann werden und wer das Hausbuch führen solle.
Alle sozialistischen Neubaugebiete glichen zunächst einer Mondlandschaft. Es gab weder Gehwege noch Sträucher oder Bäume um die Häuser herum, bei Regenwetter balancierten wir auf Brettern und Balken über die Pfützen.
Durch die kahlen Fluchten der standardisierten Plattenbauten bliesen Wind und Regen heftiger als anderswo, wenige sind hier wirklich heimisch geworden. Viele träumten davon, möglichst schnell wieder auszuziehen oder zumindest ein Auto zu kaufen, um am Wochenende aufs Land zu Oma und Opa zu fliehen. Wer konnte, pachtete sich einen Garten in den Schreberkolonien, die später am Rande der Neubaugebiete entstanden - für die Bewohner wohl die beste Idee der Rostocker Stadtplaner. Im Frühjahr
und Sommer konnte man dann der Enge der Wohnung entfliehen und Kreativität beim Bau des Gartenhauses und der Anlage der Beete entwickeln, jedenfalls im Rahmen der Regeln, die sich der Kleingartenverein für den Anbau von Blumen und Gemüse auferlegt hatte.
Wir hatten keinen Schrebergarten. Wir flohen an den Wochenenden zu meinen Eltern in den grünen Vorort Brinckmansdorf oder zu unserer Freundin Beate, die wir in der Lüssower Zeit gewonnen hatten. In den Sommerferien fuhren wir zu Freunden nach Wustrow an die See. Die Kinder haben dort glückliche Zeiten verlebt; bis heute machen sie mir allerdings den Vorwurf, dass ich zu wenig Zeit für sie gehabt, mich mehr für die Gemeinde als für die eigene Familie interessiert hätte.
Mit relativ gutem Gewissen habe ich die Familie dem Beruf nachgeordnet. Es gab so viel zu tun in Evershagen. In meiner Landgemeinde hatten noch fast alle der Kirche angehört, jetzt musste ich nach den Christen suchen. Es war wie die Entsendung in ein Missionsland.
Seit 1955 ersetzte die alternative Jugendweihe die Konfirmation fast flächendeckend, den Religionsunterricht hatte der Staat schon etwas früher aus den Schulen verdrängt. Außerdem hatte er der Kirche die Möglichkeit genommen, die Kirchensteuer über die Finanzämter einzuziehen. Wir waren also darauf angewiesen, dass Gemeindemitglieder ihre Beiträge selbst beim Kirchensteueramt einzahlten und korrekt die Höhe ihres Lohns als Bemessungsgrundlage angaben. Viele haben es nicht so genau genommen, und die Kirche hat nicht auf Genauigkeit gedrängt. Wer sich aus dem Umkreis der Kirche entfernen und sich die geringe Mühe ersparen wollte, im Standesamt seinen Kirchenaustritt zu erklären, hatte es in den anonymen Neubaugebieten besonders leicht - er zahlte einfach keine Beiträge mehr. Im Rostocker Bezirk schrumpfte die Gemeinde auf diese Weise fast um zwei Drittel von 1,2 Millionen Mitgliedern 1959 auf 450 000 im Jahre 1989. In der DDR ging die Zahl insgesamt auf 5,1 Millionen 1989 zurück - das waren dreißig Prozent der Gesamtbevölkerung. Von
einer Volkskirche war die evangelische Kirche in der DDR zu einer Kirche der Minderheit, zu einer Bekenntnisgemeinschaft geworden. Am stärksten spürte ich diese Veränderung bei den Eheschließungen. Ich habe wohl wenig mehr als zehn Trauungen durchgeführt in zwanzig Jahren. Selten waren noch beide Partner in der Kirche. Dem suchten wir Rechnung zu tragen, indem wir den Gottesdienst zur Eheschließung ähnlich wie die Trauungszeremonie gestalteten.
Als ich nach Evershagen zog, konnten sich die wenigen Christen nicht einmal im eigenen Stadtteil treffen. Es gab kein Gotteshaus noch irgendwelche Gemeinderäume, auch keinen Kirchgemeinderat und keine Mitarbeiter. In einer solchen Terra incognita die Arbeit aufzunehmen, erforderte Entschlossenheit,
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