Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Offenheit und Durchhaltekraft. Ich habe diese Reise angetreten mit großer Begeisterung, mit Freude und Neugier und vor allem mit dem festen Willen, die Herausforderung zu meistern.
Wie andere junge Pastoren in Mecklenburg orientierte ich mich an Heinrich Rathke, der später unser Landesbischof werden sollte. Heinrich Rathke hatte bereits Anfang der sechziger Jahre als Pfarrer in einem Mecklenburger Neubaugebiet Erfahrungen gesammelt - in der Südstadt, der ersten Rostocker Großwohnsiedlung im Plattenbaustil mit über 20 000 Bewohnern. An alles war damals gedacht worden - Krankenhaus, Kino, Post, Theater und so fort -, nur nicht an eine Kirche. Als erstes galt es also, die evangelischen Christen ausfindig zu machen. Rathke ging von Haus zu Haus, von Stockwerk zu Stockwerk, klingelte wahllos, meist abends. Zu Gottesdiensten konnte er aber nur in eine der weit entfernten Stadtkirchen einladen. Als alle Anträge bei der Stadt Rostock zum Bau einer eigenen Kirche fehlschlugen, stellte Rathke kurz entschlossen einen Zirkuswagen auf ein Privatgelände am Rande des Neubauviertels. Ein schlichtes Holzkreuz an der Wand und ein schlichter Tisch als Altar verwandelten ihn in einen Andachtsraum. Am 12. Mai 1963 fand dort der erste Gottesdienst mit 53 Gläubigen statt.
Einen Zirkuswagen hätte ich nicht aufstellen können. Ich
konnte aber einladen in die Sankt-Andreas-Kirche, einen kleinen schmucklosen Zweckbau in dem fünf Kilometer entfernten Ortsteil Reutershagen. Eine Christvesper haben wir anfangs auch einmal auf einem umgebauten Fischkutter gefeiert. Im Übrigen ging ich wie Rathke von Haus zu Haus, klingelte, stellte mich als evangelischer Pastor vor, informierte darüber, dass wir eine Gemeinde aufbauen wollten, und sagte entsprechend seinen Instruktionen: »Ich möchte Sie besuchen, wenn Sie evangelisch sind.« Dieser Zusatz war erforderlich, denn wir durften nicht einfach Genossen oder Nicht-Kirchenmitglieder besuchen, sie hätten uns wegen Belästigung anzeigen können und haben es manchmal auch getan. Andererseits kam es aber auch vor, dass ich mit Nichtchristen und Nicht-Gemeindemitgliedern sehr interessante Gespräche führte.
Es war ein großer Erfolg, als sich nach etwa zwei Jahren zum ersten Mal ein Kirchgemeinderat konstituierte. Das wurde dadurch erleichtert, dass teilweise aktive Gemeindeglieder aus anderen Stadtteilen zugezogen waren. Andere galt es zu ermutigen, sich dieser Verantwortung zu stellen. Die pensionierte Lehrerin riskierte wenig, aber der Diplomingenieur, der Arzt und der Diplomphysiker haben es sich wahrscheinlich mehr als einmal überlegt, ob sie sich in der Gemeinde so exponieren sollten. Doch es gelang schließlich, die wichtigsten Institutionen aufzubauen. »Die Kirchenvisitation bei Pastor Gauck«, so meldete ein Amtskollege als IM Römer der Stasi im Dezember 1975, »soll ein großer Erfolg gewesen sein. Der Bischof war voll des Lobes.« Die Kirchenleitung sei überrascht gewesen, dass sich in einer Neubaugemeinde in relativ kurzer Zeit eine solche Gemeindearbeit entwickeln lasse.
Im Unterschied zu den demokratischen Gesellschaften, in denen die Kirche selbstverständlicher Teil des öffentlichen Lebens ist und die unterschiedlichen sozialen Klassen in sich vereint, war die Kirche in der DDR eine Vertreterin der politisch Unterprivilegierten: Derer, die nichts zu sagen hatten, weil sie den Wunsch nach Aufstieg und Karriere für ein Leben ohne Verstellung aufgegeben hatten. Wer in der DDR wegen besonderer Begabung oder
aus Ehrgeiz den Weg nach oben suchte, dünnte seine Beziehungen zur Kirche in der Regel aus. Eine Ärztin, deren Sohn als Jugendlicher den Anschluss an die Gemeinde suchte und sich taufen lassen wollte, erklärte mir, das sei nicht gut für die Entwicklung des Jungen, und hat es ihm verboten.
Zu meiner Gemeinde gehörten nur wenige Ärzte und Apotheker, ein oder zwei Professoren, und nur einmal in meiner ganzen Zeit als Pastor haben Kinder aus einer Offiziersfamilie die Christenlehre besucht. Für Genossen war der Kirchenaustritt praktisch obligatorisch, auch Juristen, Anwälte und Richter mussten staatskonform sein. Das galt in ähnlicher Weise für höhere Angestellte in der staatlichen Verwaltung, im Militär, in der Volkspolizei, für die Führungskräfte in »Volkseigenen Betrieben« und für Lehrer - kaum ein Lehrer konnte sich erlauben, als Christ zu leben, am ehesten noch, wenn er Mitglied der CDU war. Bei denen, die dennoch die Gottesdienste besuchten oder ihre
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