Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Kinder in die Christenlehre schickten, konnte man eine gewisse Bekenntnis-oder auch Leidensbereitschaft voraussetzen. Sie hatten den Rubikon überschritten und hielten in bewundernswerter Treue zum Glauben. Natürlich haben viele auch aus Tradition zur Kirche gehalten, besonders wenn sie vom Lande kamen, oder man ließ das Kind taufen, weil man die Oma nicht enttäuschen wollte. Aber die Mehrheit der Gemeindemitglieder war sich einig, dass sie in dem System nicht unter Verleugnung ihrer Überzeugungen aufsteigen wollte, daher nie arriviert sein würde und fortwährend etwas riskierte.
In den Kirchengemeinden konnte man daher auf besonders unerschrockene Menschen treffen. Etwa auf Frau Beyer, eine alleinstehende Mutter, die in der Behindertenarbeit der Gemeinde half und Mitglied in unserem Kirchgemeinderat wurde. Die resolute, kommunikative Frau verdiente als Versicherungsinspektorin gutes Geld und wollte sich von niemandem etwas verbieten lassen - auch nicht von der Staatssicherheit, die die Stadt Güstrow am 13. Dezember 1981 anlässlich des Besuches von Helmut Schmidt für alle Besucher gesperrt hatte. Frau Beyer aber
verlangte an jenem Tag auf dem Rostocker Hauptbahnhof eine Fahrkarte nach Güstrow. Sie wollte den Bundeskanzler unbedingt aus der Nähe sehen.
Der Schalterbeamte schüttelte den Kopf: »Heute fährt kein Zug nach Güstrow.«
»Ich habe Sie nicht gefragt, ob ein Zug fährt, sondern ich habe um eine Fahrkarte gebeten.«
»Wozu brauchen Sie eine Fahrkarte, wenn kein Zug fährt?«
»Das ist meine Sache. Ich möchte eine Fahrkarte nach Güstrow kaufen.«
Die Angehörigen der Transportpolizei konnten sie nicht davon abhalten, in den Zug zu steigen, der erstaunlicherweise am Gleis nach Güstrow stand und tatsächlich fahrplanmäßig abfuhr.
In Güstrow angekommen, marschierte Frau Beyer geradewegs in Richtung Marktplatz, notgedrungen mitten auf der von leichtem Schneematsch bedeckten Fahrbahn, denn auf den schmalen Bürgersteigen standen Schulter an Schulter Volkspolizisten.
»Wohin wollen Sie? Der Aufenthalt auf der Straße ist verboten!«, versuchte ein Mann in Zivil sie aufzuhalten, der sich aus den Reihen der Polizisten gelöst hatte und auf sie zugeeilt war.
Frau Beyer konterte: »Frage ich Sie etwa, was Sie hier machen?«
Der Mann in Zivil erkundigte sich nicht einmal mehr nach ihrer Legitimation, obwohl sich nur Anwohner, Inhaber eines Ausweises vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Journalisten in dem weiträumig abgesperrten Areal bewegen durften. Wer mit einer solchen Chuzpe auftrat, konnte nur selbst von der »Firma« sein.
Güstrow glich einer Geisterstadt. Über 35 000 Angehörige des MfS und der Volkspolizei waren in die Stadt abkommandiert, potentielle »Störer« vorübergehend ausgewiesen, festgenommen oder unter Hausarrest gestellt worden. Anwohner durften nicht aus den Fenstern schauen, die zur Straße führten, einzelne Haustüren waren blockiert, da man »provozierende Handlungen« befürchtete. Auf keinen Fall sollte sich wiederholen, was 1970 in
Erfurt geschehen war, wo Tausende DDR-Bürger Bundeskanzler Willy Brandt begeistert zugejubelt und die Sicherheitskräfte die Menge nur mit Mühe im Zaum gehalten hatten.
Auf dem Weihnachtsmarkt spielten Wachregimentskader und eigens instruierte »gesellschaftliche Kräfte« auf Anweisung der Stasi »Bevölkerung«. Frau Beyer erreichte ihr Ziel dennoch: Zwar konnte sie dem Bundeskanzler nicht die Hand schütteln, aber sie hat ihn durch einen Ring von Sicherheitsbeamten wenigstens leibhaftig gesehen. Das war für sie ein großer Triumph.
Wir hatten nicht viele, die mit solcher Fantasie, Unerschrockenheit und manchmal auch Schwejkscher List die Normierung durchbrachen. Nicht selten haben gerade diese Menschen uns verlassen. Irgendwann nutzte auch Frau Beyer einen Besuch bei Verwandten und blieb im Westen.
Mangels eigener Gemeinderäume stützte sich unsere Arbeit in den Neubaugebieten häufig auf so genannte Hauskreise, auf Treffen, bei denen nicht die Anwesenheit des Pastors entscheidend war, sondern die Aktivität der einzelnen Christen. Bibelund Frauenabende, die Christenlehre und der Konfirmandenunterricht fanden in Privatwohnungen statt, und zwar nicht nur in der Wohnung des Pastors, sondern auch bei Gemeindemitgliedern. Da hockten zehn bis fünfzehn Kinder in einer kleinen Küche, manchmal mussten die einen die anderen sogar auf den Schoß nehmen, wenn sie den Geschichten lauschten, die ihnen Frau Bubber, unsere
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