Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
hinweg. Ohne diese »normale« Arbeit in der Evangelischen Kirche, besonders in der Jugendarbeit, hätten sich in Rostock und den allermeisten Orten der DDR nicht die Kreise von Aktiven gebildet, ohne die der Aufbruch ohne Gerüst und ohne Kontur geblieben wäre.
Aber kirchliche oder basisdemokratische Aktivitäten im Rahmen der Kirche, das war uns inzwischen klar, würden für die anstehenden politischen Veränderungen nicht mehr ausreichen. Wir suchten nach neuer Orientierung. Seit August 1989 riefen die beiden Pfarrer Markus Meckel und Martin Gutzeit sowie einige andere zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei auf. Sie forderten eine parlamentarische Demokratie, strikte Gewaltenteilung, einen Rechts-und Sozialstaat. Ein derartiger Forderungskatalog ging vielen zu weit, ebenso die Tatsache, dass es sich um eine Partei handeln sollte. Andere Programme blieben diffuser.
Der Demokratische Aufbruch etwa, der in Dresden entstand und mit Rainer Eppelmann, Friedrich Schorlemmer und Ehrhart Neubert ebenfalls evangelische Theologen als Gründungsväter hatte, beließ es bei einer Demokratisierung von Staat und Gesellschaft und der Forderung nach freien und geheimen Wahlen. Anfang September 1989 traten dann die Gruppen Demokratie Jetzt und das Neue Forum (Bärbel Bohley, Katja Havemann) an die Öffentlichkeit, beide gedacht als Reformbewegungen von unten, die einen demokratischen, »eigentlichen« Sozialismus anstrebten.
Wir in Rostock waren der Ansicht, dass wir uns zunächst nicht in Gruppen aufspalten sollten. Da über Heiko Lietz Kontakt zum Neuen Forum bestand und dies die größte unter den vielen kleinen Gruppen war, schlossen wir uns dem Neuen Forum an. Das war eine eher zufällige Entscheidung und nicht in erster Linie die Zustimmung zu einem bestimmten Programm, was dazu führte, dass sich später innerhalb des Neuen Forums verschiedene Flügel herausbildeten und in Rostock einzelne Mitglieder in andere Organisationen oder Parteien wechselten.
Zunächst gab es kein Büro, kein Telefon, keine Schreibmaschine. Wenn Treffen nicht in Kirchenräumen stattfanden, mussten sie in Privatwohnungen abgehalten werden. Eine Kontaktadresse musste her. Noch war die Sorge groß, dass die Kontaktperson eingesperrt würde. Da haben wir eine Person erfunden namens Nathan Frank - den Vornamen erhielt sie nach Nathan dem Weisen, den Nachnamen nach Anne Frank -, ihr Briefkasten hing neben meinem in der Rostocker Altstadt, Bei der Nikolaikirche 7, wo wir seit dem Umzug aus dem Neubaugebiet wohnten.
Das Besondere dieser Tage war, dass etwas völlig Unerwartetes geschah. Wir kannten die Niederlagen, jeder hatte sie verinnerlicht: den 17. Juni 1953, den Ungarn-Aufstand und den Streik der polnischen Arbeiter in Posen 1956, den Mauerbau 1961, den Prager Frühling 1968, die Streiks an der polnischen Ostseeküste 1970, das Verbot der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność 1981 - alles Signale eines letztlich zum Scheitern verurteilten Protestes.
Die Freiheit hatte immer verloren, die Mutigen waren bestraft, erschossen, verhaftet worden, die totalitäre Macht hatte sich behauptet. In ihrer jahrzehntelangen Ohnmacht hatten die Menschen eingeübt, sich nicht mehr zu erkennen zu geben, so zu tun, als würde alles seinen sozialistischen Gang gehen. Offen redeten sie nur noch im Kreis von Familien und Freunden, manchmal auch unter Alkoholeinfluss.
Doch dann wagten sie sich auch bei uns im Norden - langsam, zögerlich - aus der Deckung. Den Anfang machte Pastor Hans-Henning Harder in Waren an der Müritz. Am 16. Oktober forderte er die 450 Teilnehmer seines Fürbittgottesdienstes in der Georgienkirche auf, mit brennenden Kerzen zur Marienkirche zu ziehen, wo der Gottesdienst mit einem Gebet ausklingen sollte. Etwa hundert Menschen verfolgten den Zug allerdings aus sicherem Abstand, offensichtlich schien ihnen die Aktion noch zu riskant. Zwei Tage später in Neubrandenburg war die Stimmung aber schon umgeschlagen: Der Zug aus 1500 Menschen, der von der Johanniskirche losgezogen war, wuchs bis zu seiner Ankunft bei der katholischen Kirche auf 3000 Teilnehmer an. Der Rücktritt Honeckers hatte mobilisierend gewirkt und die Angst gemindert. Am selben Tag demonstrierten auch die Greifswalder, wir Rostocker folgten einen Tag später. Und was den Leipzigern der Montag war, wurde uns Rostockern der Donnerstag: In Zukunft würden wir an diesem Tag jeweils einen Fürbittgottesdienst abhalten und anschließend auf die Straße gehen.
Auf einer
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