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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Leben neu. Aber für uns war es bitter, dass wir sie verloren hatten. Es waren doch unsere Kinder, unsere Jugend, unsere Freunde.
    Es gärte allenthalben, und sowohl die Frustration als auch die Hoffnungen wuchsen. In Polen hatten Gespräche am Runden Tisch zu halbfreien Wahlen geführt; im August 1989 wurde mit Tadeusz Mazowiecki ein nicht-kommunistischer Ministerpräsident gewählt. Wir hingegen sahen im Staatsfernsehen noch am 6. Oktober, dem Vorabend des vierzigsten Jahrestags der DDR-Gründung, wie die Garde der Partei-und Staatschefs des Ostblocks huldvoll die Parade von 100 000 FDJ-Mitgliedern entgegen nahm. Am Abend zeigte das Fernsehen Honecker und die Seinen, wie sie ihre Greisenfäuste ballten und sangen: »Wir sind die junge Garde des Proletariats.«
    Als ich Anfang Oktober von meinem letzten Seelsorgekurs nach Rostock zurückkehrte, hatte gerade die erste Fürbittandacht stattgefunden. Studenten der Evangelischen Studentengemeinde hatten zusammen mit Pastor Henry Lohse in der Petrikirche der Verhafteten von Leipzig gedacht, wo die Polizei im September und Anfang Oktober brutal gegen Demonstranten vorgegangen war und zahlreiche Menschen verhaftet hatte.

    Die Leipziger hatten seit Anfang September nach den Friedensgebeten in der Nikolaikirche demonstriert; in Dresden waren am 4. Oktober Tausende am Bahnhof zusammengeströmt, teilweise in der Hoffnung, in einen der Züge zu gelangen, die mit den Flüchtlingen aus Prag über DDR-Territorium nach Westdeutschland geführt wurden. In Plauen im Vogtland waren am 7. Oktober mehr als 10 000 Menschen zu einer Demonstration zusammengekommen. Mitte September waren in Berlin und in anderen Städten verschiedene Oppositions-und Bürgerbewegungen gegründet worden.
    Aus Rostock hatte allerdings niemand an diesen Gründungssitzungen teilgenommen, in Rostock war es auch noch zu keiner Demonstration gekommen. Alte Ressentiments zwischen dem Süden und Norden der Republik lebten wieder auf. Die »Fischköppe« hätten die Entwicklung verschlafen, hieß es, oder der Norden sei eine »rote« Region, in der gesellschaftlich notwendige Veränderungen keine Unterstützung fänden. Autos aus den Nordbezirken wurden mit Schimpfwörtern bemalt, Mecklenburger an sächsischen Tankstellen nicht mehr bedient.
    Doch dann wachte auch der Norden auf. In Rostock gab es einen Kreis um Dietlind Glüer, die früher in der Südstadtgemeinde gearbeitet hatte und danach in Schwerin in der evangelischen Frauenarbeit tätig war. Dietlind besaß Menschenkenntnis, sie hatte Mutterwitz, war durch ihre Arbeit in der Kirche an Teamarbeit gewöhnt. Sie besaß die große Fähigkeit, andere zu inspirieren und zu motivieren, und wurde so zum Kristallisationspunkt, um den herum sich die Aktiven in Rostock sammelten. Auf ihr Drängen trafen sich am 5. Oktober sechs Gleichgesinnte, die ein erstes öffentliches Meeting für den 11. Oktober in der Michaeliskirche der Methodisten beschlossen. Diese Veranstaltung mit über 350 Teilnehmern kann als die Gründungsveranstaltung des Rostocker Neuen Forums angesehen werden.
    In jenen Tagen suchte Dietlind Glüer auch mich auf. Um eine stärkere Fokussierung und Dynamik auch in Rostock zu erreichen, müssten die Fürbittgottesdienste fortgeführt werden, gab sie
mir zu verstehen, und da ich aussprechen könne, was die Menschen fühlten und wollten, forderte sie mehr, als dass sie bat: »Jochen, du musst jetzt reden!«
    Ja, ich wollte reden und auch aktiv im Neuen Forum mitwirken. Zwar hatte ich in der Vergangenheit nicht rebelliert, war nicht als Fundamentaloppositioneller aufgetreten und hatte keine Basisgruppe gegründet. Aber mein Beruf als Pastor hatte mich gleichzeitig »hier« und doch deutlich »anders« leben lassen. Sowohl in der Gemeinde als auch als Stadtjugendpastor oder Leiter der Kirchentagsarbeit habe ich immer Kritik am kommunistischen System geübt, habe sie bei anderen gefördert und Kritiker, die verfolgt waren, verteidigt. Sicher bin ich aus Rücksicht auf das kirchliche Amt manchmal nicht so weit gegangen wie beispielsweise unser Freund Heiko Lietz, der auf sein Pfarramt verzichtete, um sich in der Basisgruppenarbeit eindeutiger positionieren zu können. Aber so wie Hunderte anderer Pfarrerinnen, Pfarrer und kirchlicher Mitarbeiterinnen habe ich thematisch und organisatorisch daran mitgewirkt, ein Netzwerk engagierter, an Bürger-und Menschenrechten, ökologischen und Friedensfragen interessierter Menschen zu schaffen - und das über viele Jahre

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