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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Stunden über verschiedene Ausgänge. Auf Schritt und Tritt von Bürgern begleitet, versiegelten die Offiziere der Volkspolizei die leeren Flure, um 6 Uhr morgens übernahmen sie die Verantwortung für die äußere Sicherheit des Gebäudes.
    Rostock, im Oktober noch ein Schlusslicht der Revolutionsbewegung, hatte durch die Besetzung der Stasi-Gebäude mit Erfurt und Leipzig gleichgezogen. Ein Protokoll, unterschrieben von einem Vertreter der Demonstranten und einem Offizier der Stasi, hielt fest, dass das Amt seine Arbeit einstellte. Die revolutionäre Übernahme der bösen Stasi-Macht erfolgte mit der weniger bösen Volkspolizei und der Staatsanwaltschaft - ein Modell, das auch in anderen Orten praktiziert wurde.
    Als wichtigstes Ereignis des Jahres 1989 hat sich in Deutschland und der Welt der Fall der Mauer eingeprägt. Für uns, die Akteure von damals, ist das allerdings nicht das zentrale Ereignis, denn ohne den 7. Oktober in Plauen, die Montagsdemonstrationen und insbesondere den 9. Oktober in Leipzig, ohne die Proteste in all den anderen Städten einschließlich meiner Heimatstadt hätte es keinen 9. November gegeben. Die Mauer fiel erst, als ihre Bauherren fielen. Vor der Einheit kam die Freiheit.
    Der 9. November war ein Donnerstag, wir haben wie in den Wochen zuvor demonstriert, wieder waren 40000 Rostocker auf den Straßen. Ganz zum Schluss, schon vor dem Rathaus, ich stieg gerade von der improvisierten Tribüne herunter, kamen zwei Volkspolizisten zu mir, um mir mitzuteilen, was sie gerade im Autoradio gehört hätten: »In Berlin fällt die Mauer.« Ich war in Gedanken in Rostock und nicht in Berlin, ich dachte an Freiheit
und nicht an Mauerfall und sagte: »Meine Herren, bleiben Sie mal auf dem Teppich und machen Sie weiter Ihren Dienst.« Als ich zu Hause den Fernseher anstellte, sah ich: Sie hatten Recht. Noch am Tag zuvor hatte ich an einem der Kontrollpunkte gestanden, weil ich eine Ausreisegenehmigung zum Geburtstag meines Onkels Gerhard erhalten hatte. Wie immer hatte ich das flaue Gefühl gegenüber den Grenzoffizieren gespürt. Und nun fluteten die Massen an ihnen vorüber … Wahnsinn!
    In Boizenburg und in Zarrentin spielten sich in der Nacht zum 10. November wie überall an den Grenzübergängen rührende Szenen ab. Am Tag danach bildeten sich lange Schlangen vor den Kreisämtern der Volkspolizei, allein im Bezirk Neubrandenburg wurden über 30 000 Reiseanträge gestellt und über 18 000 Visa für Privatreisen erteilt. Der Historiker Stefan Wolle sprach später von der »größten Volksbewegung des Wendeherbstes - der Pilgerfahrt in den Westen«. Auf den Bahnhöfen herrschte Chaos. Obwohl Sonderzüge eingesetzt wurden, konnten nicht alle mitgenommen werden, die in den Westen wollten.
    Manche Bürgerrechtler fürchteten nach der Maueröffnung, wir würden die Menschen, die wir brauchen, an den Tourismus, an die neue Reisefreiheit verlieren. Wir hätten nicht mehr die Potentiale, um unseren politischen Kampf fortzusetzen. Das hat sich als Irrtum herausgestellt. Die Demonstrationen haben zwar zahlenmäßig abgenommen, aber bei uns in Rostock wurden sie noch weit ins neue Jahr hinein fortgeführt. Es gab die großen, kritischen Dialogveranstaltungen, ein aktiver Kern war also immer noch vorhanden. Den meisten ging es wie meinen Freunden: Sie fuhren kurz mal rüber und waren weiter Feuer und Flamme für die Veränderung der Gesellschaft zu Hause.
    Einheit - wie hatte ich sie früher ersehnt, wie lange davon geträumt, in den Westen zu fahren! Aber jetzt hatte ich nicht so recht Zeit für den Westen, hatte im Osten so viel zu tun. Am 6. Dezember 1989 kam Willy Brandt zu uns, der erste bundesdeutsche Politiker, der nach dem Fall der Mauer offiziell die DDR besuchte. Ausgerechnet zu uns nach Rostock! Er sprach in der
Marienkirche, abends wurde live vom »Teepott« in Warnemünde die ZDF-Sendung »Kennzeichen D - Deutsches aus Ost und West« mit Dirk Sager übertragen. Neben Professor Rolf Reißig von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften aus Berlin nahmen Wolfgang Schnur vom Demokratischen Aufbruch, Ingo Richter von unserer neu gegründeten Sozialdemokratie und ich als Vertreter des Neuen Forums teil. Es war die erste gesamtdeutsche Fernsehsendung.
    Keinem Politiker der Nachkriegsgeschichte ist in Rostock ein so herzlicher und begeisterter Empfang bereitet worden wie Willy Brandt. In den Straßen und Plätzen der Innenstadt hatten sich 40 000 Menschen versammelt; weitere 8000 füllten die

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