Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
Vom Netzwerk:
Marienkirche bis auf den letzten Quadratzentimeter. Auf dem Weg durch die Kirche wurde er von allen Seiten mit Blumen überschüttet. Ich erinnerte an seine Lebensstationen, an den jungen Flüchtling, der Nazi-Deutschland verlassen hatte, an den Berliner Bürgermeister - 1961 mit Zorn und Empörung im Gesicht, an den Bundeskanzler - 1970 auf den Knien vor dem Getto-Denkmal in Warschau - ein Ausdruck von Scham, Demut und dem Willen zum radikalen Neuanfang. »Viele von uns haben damals neben Ihnen gekniet.« Ich erinnerte auch an seinen Rücktritt. »Ihr Blick, als diese graue Kreatur in Ihrer Nähe enttarnt wurde. 2 Da war Ihre Enttäuschung ein Teil unserer Wut.« Und ich sagte: »Alle diese Bilder verbinden sich für mich mit dem Gegenwärtigen. Ihr gemeinsamer Nenner: Glaubwürdigkeit und Menschlichkeit. Und so ehren wir mit Ihnen einen Politiker, der etwas hat, was wir an unseren bisherigen Führungspersonen schmerzlich vermissten.«
    Brandt erinnerte daran, dass seine Mutter aus Mecklenburg stammte und er in seiner Kindheit nicht nur ihren Geburtsort Klütz, sondern auch Wismar, Schwerin, Güstrow und Rostock besucht habe. Nach 53 Jahren war er nun nach Rostock zurückgekehrt. Und er erinnerte an seine Anstrengungen als Bundeskanzler,
das geteilte Europa nicht völlig auseinanderfallen zu lassen - durch Verträge mit der Sowjetunion, mit Polen, der Tschechoslowakei und durch den Grundlagenvertrag mit der DDR, vor allem aber auch durch die erste gesamteuropäische Konferenz im Sommer 1975 in Helsinki: »Insofern haben wir einige Voraussetzungen mitschaffen helfen für das, was nun in Bewegung gekommen ist.«

    Was Brandt wenige Tage zuvor, am 10. November 1989, auf einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin geäußerte hatte: »Nun wächst zusammen, was zusammengehört«, ist im Nachhinein immer als die Vorwegnahme der Einheit interpretiert worden. Damals aber konnte selbst er sich diese Entwicklung noch nicht vorstellen. Ihm schwebe vor, sagte Brandt in Rostock, »dass wir zu einer neuen Art von Deutschem Bund zusammenfinden … Wiedervereinigung kann ich mir eh schwer vorstellen.«
    Es handele sich um ein »Wiedersehen« und nicht um die »Wiedervereinigung«, beschwichtigte auch der West-Berliner
Bürgermeister Walter Momper. Die Grünen sahen es ebenso. Doch auf der Leipziger Montagsdemonstration wurden am 13. November bereits Transparente mitgeführt, auf denen »Wiedervereinigung! Der Anfang ist gemacht!« oder »Warum kein geeintes Deutschland?« zu lesen war. Vierzehn Tage später hieß es unmissverständlich »Deutschland einig Vaterland!« und in Fortschreibung unserer Parole »Wir sind das Volk« hieß es bald: »Wir sind ein Volk«.

    Am 6. Dezember 1989 kam Willy Brandt nach Rostock. Nach einer beeindruckenden Begegnung mit Tausenden in der überfüllten Marienkirche nahmen Brandt und ich am späten Abend an einer deutsch-deutschen Gesprächsrunde in Warnemünde teil, die live vom ZDF übertragen wurde (links). Ein Rostocker schickte mir etwas später das oben abgebildete Foto: »Jochen, du warst im Westfernsehen!«
    Unter den Basisgruppen setzte eine Polarisierung ein. Wolfgang Ullmann von Demokratie Jetzt war strikt gegen die Wiedervereinigung. Bärbel Bohley vom Neuen Forum war besorgt und warnte vor dem Ausverkauf der DDR. Mein Pastorenkollege und enger Verbündeter Henry Lohse, mit dem ich in Rostock abwechselnd die Donnerstagsgottesdienste gestaltete, malte die schrecklichen Folgen einer kapitalistischen Überfremdung an die Wand - höhere Lebensmittelpreise, höhere Mieten, Arbeitslosigkeit.
    Rostocker Pastoren, darunter keine, die zuvor Parteigänger des
Systems gewesen waren, gründeten mit ein paar Oppositionellen aus den Gemeinden und reformerischen SED-Vertretern eine Vereinigte Bürgerinitiative für einen neuen Sozialismus in einer eigenständigen DDR. Als sich bei der Donnerstagsdemonstration am 30. November Teilnehmer mit dem Transparent »Deutschland, einig Vaterland« an die Spitze des Zuges setzten, wurden sie beschimpft. Eine »Antifa-Rostock« meldete sich mit einem Flugblatt zu Wort: »Erschrocken haben wir am Donnerstag, dem 30. November 1989, registriert, wie gewaltig die Renaissance ist, die Nationalisten und Braune in dieser Zeit durchleben … Darum auf die Straße gegen Wiedervereinigung, Neofaschismus und Ausländerhass! Wir können uns keinen Rechtsruck leisten!«
    Es war ein Zerrbild, das da von der Bundesrepublik Deutschland entstand: ein Land beherrscht

Weitere Kostenlose Bücher