Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Neuen Forums aus allen Teilen der DDR, als spielten sie gerade Zentralkomitee. Tatsächlich handelte es sich um eine unserer großen Veranstaltungen zu den freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990.
Wir waren »nicht links, nicht rechts, sondern geradeaus«, aber wir waren längst nicht mehr so attraktiv wie zur Zeit der großen Gottesdienste und Demonstrationen, obwohl wir für unsere Großveranstaltungen in Schwerin und in Rostock mit Monika Maron und Wolfgang Leonhardt zugkräftige Wahlhelfer gewinnen konnten. Gegen die geballte Wahlkampferfahrung und die finanzielle Potenz der etablierten, nun auch im Osten tätigen Westparteien waren unsere Werbemöglichkeiten mehr als begrenzt.
Dann kam der Wahltag, der 18. März 1990. Als ich meine Stimme abgegeben hatte und aus dem Wahllokal trat, liefen mir die Tränen über das Gesicht. Ich musste fünfzig Jahre alt werden, um erstmals freie, gleiche und geheime Wahlen zu erleben. Und nun hatte ich sogar die Möglichkeit, ein wenig an der politischen Gestaltung der Zukunft mitzuwirken. Seit 1933 hatten die Menschen hier nicht mehr das Recht ausüben können, das ihre Vertreter
zur zeitlich begrenzten Herrschaft berechtigt. Ich hatte nach all den Jahren nicht mehr damit gerechnet, ein Bürger, ein Wähler sein zu können. Es war eine Mischung aus Freude und Stolz in mir. Und ich war jenen dankbar, die daran mitgewirkt und dieses Land nun tatsächlich zu einer deutschen demokratischen Republik gemacht hatten. In diesem Moment wusste ich auch: Du wirst nie, nie eine Wahl versäumen.
Das Wahlplakat vom Bündnis 90 mit den Fotos der Spitzenkandidaten glich eher einem Steckbrief. Meine Unterstützer, die mich in Rostock zum Spitzenkandidaten der Bürgerbewegung gewählt hatten, waren so erschrocken, als sie es sahen, dass sie sammelten, um ein eigenes Plakat drucken zu lassen. Ich schrieb mein Lebensthema in Rot groß darauf: »Freiheit!«
Unser Wahlergebnis war allerdings mehr als ernüchternd. Wir erhielten nur 2,9 Prozent, aber es langte, um in die Volkskammer einzuziehen, denn wir hatten keine Fünf-Prozent-Klausel. Um in ein Loch zu fallen, hatte ich keine Zeit. Zwölf Abgeordnete von Bündnis 90 zogen in die Volkskammer ein, ich schaffte es als einziger Kandidat der Bürgerbewegung aus Mecklenburg-Vorpommern.
Der Wahlgang insgesamt war ein Triumph. 93,4 Prozent der Wahlberechtigten waren zu den Urnen gegangen. Freiwillig. So viel Zuspruch hat eine Wahl in den westeuropäischen Staaten niemals erreicht. Zur Analyse lud das NDR-Fernsehteam ins Rostocker Hotel Warnow. Man stellte mich für das Interview neben einen mir flüchtig bekannten Mann, der erklärte: »Ich bin der Wahlsieger.«
»Ich denke, das ist Helmut Kohl!?«
Er war der Helmut Kohl aus dem Mecklenburger Norden. Er hieß Günther Krause, war Mitglied der Blockpartei CDU gewesen und hatte für die CDU kandidiert. Später lief er mir häufig über den Weg, denn er handelte in verantwortlicher Position auf DDR-Seite den Einigungsvertrag mit Wolfgang Schäuble aus. Es war eine enorm arbeitsaufwendige Aufgabe und die wohl wichtigste Phase in seinem Leben, denn später musste er aufgrund mehrerer Affären aus der Regierung zurücktreten, und noch später wurde er unter anderem wegen Insolvenzverschleppung verurteilt.
Günther Krause war 1989 kaum bekannt, aber er war der Sieger. Mich kannte man, doch ich hatte verloren. Es war mir ergangen wie so vielen aus der Bürgerbewegung: »Toll, was ihr macht«, sagten die Menschen und klopften uns anerkennend auf die Schulter, »aber wir wählen Helmut Kohl.«
Ich war weder verwundert noch gekränkt, ich konnte das verstehen.
Volkskammer: frei und frei gewählt
A lles wurde nun anders. Jeden Tag wurde Altes durch Neues ersetzt - bald würden die Menschen fremdeln vor so viel Erneuerung. Aus den Bezirken der DDR würden wieder Bundesländer werden, was sich nicht nur die Sachsen, sondern auch die Mecklenburger und alle anderen wünschten. Eine bunte Warenwelt würde über das Land kommen und den vertrauten sozialistischen Handel dahinraffen. Niemand bedauerte das Ende von HO und Konsum, bis mit dem Dorfkonsum die einzige Einkaufsmöglichkeit aus Tausenden von Dörfern verschwand. Alle schimpften über die alten »Seilschaften«, die Einflussnetzwerke von SED und Staatskräften, allerdings empfanden einige bald die zu Hilfe eilenden Neuen aus dem Westen als Bedrohung.
Die Wähler hatten bestätigt, was die Demonstranten erzwungen hatten. Die Volkskammer stand vor
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