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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Schritte bereits zur Auflösung des AfNS unternommen worden waren - 30 000 von zuletzt 85 000 hauptamtlichen Mitarbeitern seien bereits entlassen, die Post-und Telefonüberwachung sei eingestellt worden, die Abgabe der 125 600 Pistolen, 76 500 Gewehre, 3300 Polizeiflinten, 3500 Panzerbüchsen habe begonnen -, besetzten Bürgerrechtler die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße, die einzige Stasi-Behörde, die noch nicht unter der Kontrolle der Bürgerkomitees stand. In einem Flugblatt hatte das Neue Forum dazu aufgerufen, »Kalk und Mauersteine« mitzubringen: »Wenn die Stasisten nicht endlich rauskommen«, so die Parole, »dann mauern wir sie ein!« In Erfurt war man schon so verfahren.

    In der Normannenstraße gelang es einer großen Zahl von Demonstranten überraschend schnell, in den Komplex einzudringen. Merkwürdig war nur, dass sie in den Verwaltungstrakt mit Kino und Kantine stürmten und nicht in das Haus 1 mit Mielkes Dienstsitz und seinen operativen Abteilungen. Dass es sich dabei um ein abgekartetes Spiel der Stasi gehandelt haben soll, wie bald vermutet wurde, konnte bis heute nicht bewiesen werden. Jedenfalls wurde am 15. Januar 1990 die letzte Stasi-Bastion mit 5800 Büros in sechzig Gebäuden in verschiedenen Berliner Stadtteilen eingenommen und unter die Kontrolle eines Bürgerkomitees gestellt.
    Koordinierender Vorsitzender des Bürgerkomitees wurde David Gill, ein 23-jähriger Student des Sprachenkonvikts, einer kirchlichen theologischen Ausbildungsstätte. Später wurde er der erste Pressesprecher unserer Stasi-Unterlagen-Behörde, der, wo immer er auftrat,Vertrauen erwarb - freundlich, engagiert, kompetent, verlässlich, für mich die Inkarnation aller Tugenden, die mir bei unseren jungen Mitstreitern während des revolutionären Umbruchs begegnet waren.
    Die Arbeit des Bürgerkomitees bei der Abwicklung der Zentrale wurde zunächst durch die Modrow-Regierung behindert, denn sie setzte ihm ein Staatliches Auflösungskomitee vor die Nase. Und nach der Volkskammerwahl wurde die Situation nicht besser, sondern schlechter, da der neue Innenminister Peter-Michael Diestel erklärte, ein Bürgerkomitee sei nicht mehr erforderlich. Er sperrte ihm kurzerhand den Zugang zum Archiv und schickte den Komiteemitgliedern für Ende Juni 1990 die Entlassungsbescheide.
    Mitte Juni konstituierte sich allerdings der Sonderausschuss zur Auflösung der Stasi. Wir baten David Gill aufgrund seiner Erfahrungen dazu. Am Ende der Sitzung war ich zum Vorsitzenden und David Gill zum Sekretär des Ausschusses gewählt.
    Der Sonderausschuss der Volkskammer zur Auflösung der Stasi sollte parlamentarisch legitimiert das fortsetzen, was die Bürgerkomitees begonnen hatten. Das von Modrow eingesetzte Staatliche
Auflösungskomitee, das die Regierung de Maizière umstandslos übernommen hatte, hat sich unserer Kontrolle allerdings weitgehend zu entziehen versucht, und der Innenminister hat es gedeckt.
    Peter-Michael Diestel war zunächst Repräsentant der DSU, der ostdeutschen Schwesterpartei der CSU, dann, als sich die DSU seiner entledigte, Mitglied der CDU. Im parlamentarischen Raum genoss er keineswegs das für seine heiklen Aufgaben notwendige Vertrauen, und erst recht nicht unter den Aktivisten der Demokratiebewegung. Eigenartigerweise hat er dennoch alle Krisen bis zur Auflösung der Regierung de Maizière im Oktober 1990 überstanden. Diestel deckte Stasi-Mitarbeiter, die in großer Zahl im Staatlichen Komitee zur Auflösung der Stasi saßen, und er deckte die Vernichtung von Material der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), der Auslandsspionage der Stasi, die unter der Regierung Modrow begonnen hatte und bis nach der Volkskammerwahl andauerte. Zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen ihm und dem Sonderausschuss der Volkskammer kam es vor allem, als es um die Aufdeckung der Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) und um das Stasi-Unterlagen-Gesetz ging.
    Im Fall der OibE haben wir vom Sonderausschuss tatsächlich Aufgaben übernommen, die uns gar nicht zustanden, denn wir wollten Stasi-Offizieren kein Untertauchen ermöglichen. Daran habe auch ich mich beteiligt. Die berüchtigten OibE rückten ins Blickfeld, als der Bürgerrechtler Hans Schwenke durch Zufall auf den Mielke-Befehl 6/86 stieß, die »Ordnung über die Arbeit mit den Offizieren im besonderen Einsatz«. Es handelte sich dabei um Stasi-Mitarbeiter, die unter Verheimlichung ihres tatsächlichen Dienstes in sicherheitsrelevanten Positionen eingesetzt waren und im

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