Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
einer grundlegenden Erneuerung. Wir »Neuen« waren glücklich, als wir zur festlichen Konstituierung in den Plenarsaal im Palast der Republik einzogen. Wo die SED all die Jahre Parlament hatte spielen lassen, würden zum ersten Mal frei gewählte Abgeordnete eine Demokratie errichten. Und was vierzig Jahre lang eine Lüge gewesen war, würde Wahrheit werden: eine Deutsche Demokratische Republik.
Zwar verfügte die zur Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) mutierte SED über 66 Sitze, aber »wir« waren die Mehrheit: die CDU mit 163, die SPD mit 88 Mandaten, dazu unser Bündnis 90 mit zwölf und die Grünen mit acht von insgesamt 409 Abgeordneten. Doch bei näherem Hinsehen trübten sich meine Freude und mein Stolz: Etwa 185 der neuen Abgeordneten hatten im untergegangenen System der SED oder einer Blockpartei angehört. In meinem Ausschuss saß beispielsweise ein Pastorenkollege aus Thüringen, der Mitglied der CDU-Blockpartei gewesen war.
»Martin, merkwürdig ist das schon«, sagte ich zu ihm, »früher für Honecker und jetzt für Kohl!?« Er lachte nur, und ich stimmte schließlich ein, denn er war gewählt und nahm seine Aufgabe ernst.
Auch die neue Regierung unter Lothar de Maizière rief bei mir nicht ungeteilte Freude hervor. Von den 23 Ministern gehörten dreizehn der CDU und zwei den Liberalen an - auch sie ehemalige Mitglieder der Blockparteien. Parteilos gewesen waren nur die elf Minister der SPD und der kleinen neuen Parteien: der Deutschen Sozialen Union (DSU) und des Demokratischen Aufbruchs (DA); mit Markus Meckel und Rainer Eppelmann kamen nur zwei Minister aus der DDR-Opposition.
Es war eine sehr arbeitsintensive, sehr aufregende, manchmal auch skurrile Zeit. Wir tagten unter einem großen silbernen DDR-Wappen mit Hammer, Sichel und Ährenkranz, das an der Stirnwand des Plenarsaals prangte. Wir legitimierten uns mit Klappausweisen, die das Siegel der DDR trugen und uns wie unsere ungeliebten Vorgänger zum unentgeltlichen Fahren mit Bus und Bahn - erster Klasse - berechtigten. Gemäß dem überlieferten DDR-Protokoll überreichte man uns eine große Mappe aus rotem Leder mit der Geschäftsordnung der Volkskammer. Geschlafen haben wir in einem verlassenen Komplex des Ministeriums für Staatssicherheit in der Lichtenberger Ruschestraße gegenüber der ehemaligen Stasi-Zentrale. Die Zimmer mit Küchenzeile strahlten den Charme eines sozialistischen Ledigenwohnheims aus. Für die weiten Fahrten zwischen Schlaf-und Arbeitsplatz standen uns die alten Fahrbereitschaften der Stasi und der Ministerien zur Verfügung. Immer wieder musste ich daran denken, wer zuvor in diesen Autos gefahren und wer in diesen Betten geschlafen hatte. Dann überfielen mich Gefühle des Triumphs, aber manchmal ekelte ich mich auch.
In unserer Fraktion waren unter den altgedienten Oppositionellen einige sehr gute Redner, etwa Wolfgang Ullmann, Jens Reich, Gerd Poppe, Matthias Platzeck, Marianne Birthler, Vera Wollenberger, Günther Nooke, Konrad Weiss und Werner Schulz.
Wir waren nur gering an Zahl, stellten aber ein parlamentarisches Schwergewicht dar. Da ich nicht so berühmt war wie andere in der Fraktion, kam ich weder in den Ausschuss Deutsche Einheit, in dem ich am liebsten gearbeitet hätte, noch in den Auswärtigen Ausschuss, sondern in den Innenausschuss, wohin ich gar nicht wollte. Ich ahnte nicht, dass ich dadurch mit einer Aufgabe betreut werden würde, die mich mehr als zehn Jahre in Anspruch nehmen würde. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass die Staatssicherheit nun mein Thema werden sollte.
Das Ende des Ministeriums für Staatssicherheit war schon unter der Regierung von Hans Modrow eingeläutet worden, Anfang Dezember 1989, als verschiedene Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen der Stasi von aufgebrachten Bürgern besetzt worden waren. Sehr schnell hatte sich nämlich herausgestellt, dass die Mitte November erfolgte Umbenennung des Ministeriums in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) lediglich ein Ausweichmanöver der SED gewesen war. Wir wollten weder eine umstrukturierte noch eine umbenannte Stasi, wir wollten gar keine Stasi, und wenn schon einen Verfassungsschutz, dessen Gründung damals vorbereitet wurde, dann gewiss nicht mit MfS-Personal und MfS-Akten. Die DDR-weit vernetzten Bürgerkomitees und der zentrale Runde Tisch forderten daher die sofortige Auflösung des AfNS.
Während Ministerpräsident Modrow am 15. Januar 1990 in der Sitzung des Runden Tisches darlegen ließ, welche
Weitere Kostenlose Bücher