Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Notfall das Überleben der Stasi garantieren sollten. Man musste also vermuten, dass OibE in wesentlichen Bereichen von Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Polizei und Armee weiter tätig waren. Obwohl die elektronischen Datenträger der Stasi mit personenbezogenen Angaben auf Beschluss des Runden Tisches im März 1990 vernichtet worden waren, konnten wir eine Liste von knapp 2000 OibE zusammenstellen. Es ging uns nicht darum,
diese Leute anzuprangern - noch gab es keinerlei Regelung über den Umgang mit den Stasi-Akten -, aber aus ihren Stellen wollten wir sie unbedingt entfernen.
Der wohl berühmteste OibE war Alexander Schalck-Golodkowski, Staatssekretär im Außenhandel und als Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo) Verhandlungspartner bundesrepublikanischer Politiker, allen voran Franz Josef Strauß, mit dem er 1983 den westdeutschen Milliardenkredit für die DDR aushandelte. Schalck-Golodkowski hatte sich allerdings längst in den Westen abgesetzt.
Weil wir dem Personal von Herrn Diestel misstrauten, hatten wir die Namenslisten der OibE in den einzelnen Bezirksstädten Vertrauenspersonen aus den Bürgerkomitees übergeben. Sie besorgten die entsprechenden Akten, dann begaben sich unsere Ausschussmitglieder in die einzelnen Regionen, um diese Offiziere unverzüglich aus ihren Positionen zu entfernen. Ich fuhr nach Rostock, bestellte die Leiter der Bezirksbehörde der Volkspolizei ein und erklärte: »Wir sind gekommen, um Sie zu informieren, dass jene und jene Offiziere Mitglieder der Stasi sind.« Sie seien unverzüglich zu entlassen beziehungsweise zum Rücktritt zu bewegen. Sollte das nicht geschehen, würden wir die Sache öffentlich machen.
Diestel beschwerte sich, dass Abgeordnete sich Rechte anmaßten, die ihnen nicht zustanden. Doch er hatte politisch einen schweren Stand, da sich herausstellte, dass in seinem eigenen Ministerium zehn OibE beschäftigt waren. Der Versuch, seine Abberufung als Innenminister durchzusetzen, scheiterte zwar in der Volkskammer, aber von seiner Zuständigkeit als Stasi-Auflöser wurde Diestel entbunden. Die gesellschaftliche Empörung über sein Versagen bei der Stasi-Aufarbeitung und der Druck der Medien waren so stark, dass er keine weiteren Schritte gegen uns unternahm.
Der zweite, politisch weit wichtigere Konflikt, in den unser Ausschuss geriet, drehte sich um den zukünftigen Umgang mit den Stasi-Akten. Nachdem die Regierung de Maizière einen Entwurf
vorgelegt hatte, der vom Parlament als völlig unzureichend zurückgewiesen worden war, begann unser Ausschuss mit der Ausarbeitung eines eigenen Entwurfs. Im Zentrum stand die Idee, den Aktenbestand zu sichern und für die politische, juristische und historische Aufarbeitung zugänglich zu machen. Wir verfügten dabei bereits über sachkundigen Beistand aus dem Westen. Das hatte sein Gutes - wir kamen bei der Arbeit schnell voran und lernten viel über die demokratischen und parlamentarischen Gepflogenheiten -, aber es gab auch einen Nachteil: Wir waren die Laienspieler, sie die Profis. Überall wurde der Ostdeutsche, der gerade noch der Sieger der Geschichte gewesen war, zum Lehrling. Mancher fühlte sich da fremd im eigenen Land.
Wir teilten diese Gefühle nicht, und wir brauchten juristische Hilfe bei der Argumentation gegen Innenminister Diestel, der behauptete, in einem freiheitlichen Land verhindere der Datenschutz den freien Zugang zu den personenbezogenen Akten.Von Hans-Jürgen Garstka, dem Landesbeauftragten für den Datenschutz in West-Berlin, haben wir damals gelernt, dass Datenschutz kein Täterschutz sein darf und es Möglichkeiten gibt, dem Datenschutz gerecht zu werden, ohne Abstriche in den politischen Absichten vorzunehmen.
Wir haben das »Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS« in kürzester Zeit verfasst. Bereits am 24. August 1990 wurde es fast einstimmig von der Volkskammer angenommen. Zum ersten Mal in der Politikgeschichte gab es eine Umwidmung des gesamten Archivguts einer Geheimpolizei, die dem Einzelnen und der Öffentlichkeit das Recht eines geregelten Zugangs einräumte. Wir empfanden die Verabschiedung dieses Gesetzes als eine Sternstunde unseres jungen Parlaments. Anders als in Westdeutschland nach 1945 hatten wir die Interessen der Opfer angemessen und zu Lasten der Täter und ihrer Helfer berücksichtigt.
Wir ahnten allerdings nicht, dass das Tauziehen gerade erst begonnen hatte. Wäre es nach dem damaligen
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