Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
von Konsumterror, Arbeitslosigkeit, Drogen und Prostitution, in dem die Schuld für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs geleugnet werde.
Bekannte Vertreter von Oppositionsgruppen wie Konrad Weiß, Ulrike Poppe und Friedrich Schorlemmer unterzeichneten gemeinsam mit prominenten Schriftstellern wie Stefan Heym und Christa Wolf den Appell »Für unser Land«, in dem sie ebenfalls einen unsinnigen Widerspruch aufbauten: »Entweder: Können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, … eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des Einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet wird. Oder: Wir müssen dulden, dass, veranlasst durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflussreiche Kreise aus der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt …« Und der Bremer Bürgermeister Klaus Wedemeier erklärte in unseren Rostocker Norddeutschen Neuesten Nachrichten: Das »Wiedervereinigungsgetöse« beruhe »auf Ideen von vorgestern«; das DDR-Volk sei glücklicherweise dabei, »den eigenen Staat in die Demokratie zu führen«.
All diese Einschätzungen teilte ich nicht, ganz im Gegenteil:
Ich begann für die Einheit zu werben. Ich habe sogar die Stasi-Besetzung am 4. Dezember versäumt, weil ich die ganze Nacht mit Freunden und den engsten Mitarbeitern über die deutsche Einheit diskutiert habe. Wir waren einander wirklich sehr nahe nach all den Wochen des Kampfes. Aber jetzt bestand die Gefahr, dass wir aneinander gerieten. Aenne, Connie, Johann-Georg, Kirsten und andere waren mehr als skeptisch. Die Wiedervereinigung war das Thema des Donnerstagsgottesdienstes drei Tage später. Sie fragten: »Jochen, was soll das? Wir müssen doch hier in unserem Staat klarkommen!«
Auch mir war es wie allen anderen zunächst um Demokratie und Freiheit gegangen. Aber ich hatte in den Herbsttagen Kontakte zu Werftarbeitern, die vom Sprecher des Neuen Forums wissen wollten, was aus ihrer Werft würde, »wenn wir gewinnen«. Was sollte aus all den Staatsbetrieben werden? Meinen Hinweis auf einen »dritten Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus fanden sie zu unkonkret. Ich auch. In Rostock war keine Antwort auf die Ökonomie des »dritten Weges« bekannt. Auch von Bärbel Bohley und Reinhard Schult vom Neuen Forum in Berlin war wenig zu erwarten, selbst die Fachleute der Arbeitsgruppe Ökonomie verfügten über kein Rezept. Aber sie hatten eine Option, es war die soziale Marktwirtschaft. Als ich den Arbeitern dies bei der nächsten Besprechung mitteilte, reagierten sie völlig unaufgeregt: »Das ist ja dann wie im Westen!«
»Ja«, sagte ich, »wie im Westen oder auch im Norden.«
»Dann können wir ja auch für die Einheit sein«, sagten sie.
Das fand ich auch. Es lag auf der Hand: Wenn wir Freiheit und Demokratie wie im Westen haben würden und auch eine Wirtschaftsform wie im Westen, wozu sollte dann ein eigener ostdeutscher Staat gut sein?
Unmittelbar vor der Vollversammlung des Neuen Forums am 13. Dezember notierte ich drei Kernpunkte, die für die deutsche Einheit sprachen: »Ich frage mich, ob es angebracht ist, diesen Einheitswillen zu diskreditieren oder zu zensieren. Im Neuen Forum sollten wir dies unterlassen. Wir sind nicht in erster Linie Lehrer
des Volkes, sondern Teil des Volkes … Wenn wir die Einheit bejahen, übersehen wir nicht, dass sie jetzt gleich und total nicht zu haben ist. Wir bejahen also einen Wachstumsprozess. Diesen sollten wir aber nicht verzögern, sondern deutlich fördern, begleiten und mitbestimmen … Beide Teile der Nation haben dabei je eigene Teile zu erlernen und zu verlernen … Der Kampf um eine erneuerte Gesellschaft ist mit dem Ziel ›Einheit‹ nicht erreicht. Die emanzipatorischen Prozesse sind danach deutlich weiterzuentwickeln.« Den Linken baute ich eine Brücke: »Sogar Sozialismus kann möglich werden, aber nicht vom ›Sozialismus‹ aus.«
Im Neuen Forum von Rostock gab es eine sehr große Mehrheit für meinen Kurs; linke, aktive Pastorenkollegen innerhalb und außerhalb vom Neuen Forum waren dagegen, einer von ihnen verzögerte den Abdruck des Beschlusses in unserem Mitteilungsblatt sogar um mehr als einen Monat. Da war ich bereits zum ersten Treffen des Neuen Forums mit Delegierten aus allen Bezirken nach Berlin gefahren. Auf der Versammlung am 27./28. Januar setzte ich mich
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