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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerard Donovan
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steckte es in den Mantel.
    Ich konnte nicht schnell genug zur Hütte zurückkommen und dann nicht schnell genug hineingehen, weder schnell ge nug die Ofentür öffnen noch schnell genug das Plakat hineinstecken und verbrennen und dabei zusehen, wie sich das orange glühende Papier um die Scheite ringelte, ich hatte das Gefühl, als wäre die Grausamkeit von Kleinstädten so spitz wie ein Bleistift, ein Stift, mit dem man auf Plakaten von entlaufenen oder erschossenen Tieren herumkritzeln und sich über sie lustig machen konnte. Meine Gedanken hüpften aufgeregt auf einem hohen Baum herum und wollten nicht herabkommen, mich nicht lesen lassen, und sosehr ich es auch versuchte - verschiedene Bücher, verschiedene Autoren, warm und kalt -, es drängte mich zur Tür hinaus, ich musste mich bewegen.
    Ich schnappte mir einen Mantel und ging auf dem Pfad in den Wald, in die Richtung, aus der ich den Schuss gehört hat te. Inzwischen war ein ganzer Tag verstrichen, doch mir kam es wie mehrere Wochen vor, und ich spielte alles noch einmal durch, um mich orientieren zu können. Ungefähr fünfhundert Meter weiter, wo die Bäume an ein breites Feld grenzten, sah ich eine gelbe Schrotpatrone im Gras und hob sie auf. Sie war neu, das Metall nicht verrostet, die Plastikhülse noch strahlend gelb. Ein paar Schritte weit im Wald entdeckte ich eine Blutlache und dann gefrorene Blutstropfen, die in Richtung der Hütte führten.
    Das war die Stelle. Hobbes hatte es mit einer Ladung Schrot im Körper, abgefeuert aus einem halben Meter Entfernung, noch fünfhundert Meter weit geschafft. Ich blickte den Pfad entlang und sah hinter den in einer Senke stehenden Bäumen das Dach der Hütte. Fünfhundert Meter, um dort hinzugelan gen. Ich tastete den Boden ab, bückte mich immer wieder auf der Suche nach Fußabdrücken, fand aber keine. Der durchs Gras streichende Wind hatte sie getilgt.
    7
    Es war Spätnachmittag. Ich hatte das Feuer ausgehen lassen.
    Während der Wald rings um die Hütte still, abweisend und dunkel wurde, saß ich auf dem Gartenstuhl und fragte mich, was wohl mein Vater zu alldem gesagt hätte, was er davon ge halten hätte, dass ein erwachsener Mann, sein Sohn, wegen ein bissc hen Blei und einem Hund außer sich war und an einem kalten Feuer saß, falls es so etwas überhaupt gab, dass er im Dunkeln saß mit etwas anderem, das zur Tür hereingekrochen war und in seiner Nähe stand, einem Gefühl oder einem Schemen, der sich nicht ignorieren ließ, sich aber auch nicht vorstellte, sondern von Zimmer zu Zimmer streifte, mit den Möbeln und Vorhängen raschelte und dann mit verschränkten Armen wieder ins Wohnzimmer kam, als wollte er sagen: Und, was ist? Ich saß auf dem Stuhl, als sich das Licht im Zimmer plötzlich auf die Seite des Waldes schlug, und ich unternahm nichts, um das Zimmer zurückzugewinnen, wollte weder lesen noch Tee machen oder Kurzwellenradio hören. Mein Vater hätte das nicht hingenommen, er hätte sein Buch zugeschlagen und gesagt, ich solle mich zusammenreißen. Wie sein Vater vor ihm hatte er schon zu viele Kämpfe erlebt. Mein Blut wurde durch zwei Weltkriege von Gewehren entwöhnt.
    Und doch quälten mich die gelbe Patrone und das Blut: ein kurzes Gefecht am Rand eines Pfads in einer gottverlassenen Gegend.
    Mein Vater hatte mir erzählt, sein Vater habe so viele Kriege auf dem Buckel gehabt, dass es ein Wunder sei, dass er noch gerade stehen konnte: Orden aus dem Burenkrieg, aus dem Ersten Weltkrieg und anderen kleinen Kriegen, von denen man heute nichts mehr weiß, Scharmützeln im Busch, bei de nen in kurzer Zeit Dutzende oder Hunderte starben und dann aus der Geschichte gelöscht wurden. Nach der Rückkehr aus dem Krieg feuerte mein Großvater nie wieder ein Gewehr ab, und vor seinem Tod schenkte er seine Orden meinem Vater und sagte, es sei ihm egal, ob er sie behalte oder wegwerfe.
    Eines Tages gestand ich meinem Vater, dass ich nicht ver stünde, wie mein Großvater so etwas sagen konnte, und da erwiderte er: Erster Weltkrieg, Schlacht an der Somme, eine abgeschiedene ländliche Gegend in Frankreich, in der über eine Million Soldaten fielen - eine halbe Million Briten, zweihunderttausend Franzosen und über fünfhunderttausend Deutsche, erschossen oder von Geschützen zerfetzt. Vor dem Angriff ließen die Alliierten eine Woche lang ein Artilleriebombardement auf den Feind niedergehen, 1,6 Millionen Granaten aus fünfzehnhundert Geschützen, und trotzdem verloren sie schon am ersten Tag

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