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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Sezimovo Ústí. Jan blieb zurück, um mit Beneš in dessen Arbeitszimmer zu reden. Etwa 15 Minuten später ging er vergleichsweise gut gelaunt, erzählte den Sekretärinnen Witze und ließ seinen Charme spielen.
    Die Masaryks, Sohn und Vater
    Wieder in seiner Wohnung, machte Masaryk, der immer noch an einer Bronchitis und hohem Blutdruck litt, einen zweistündigen Mittagsschlaf. Nach dem Aufwachen erledigte er Routinearbeiten und ging noch einmal den Terminplan für den nächsten Tag durch. Er sollte an der Wiedereröffnung des Parlaments und an einem Treffen der Gesellschaft der Polnisch-Tschechoslowakischen Freundschaft teilnehmen, für das er noch eine kurze Rede aufsetzen musste. Laut der Aussage seiner Sekretärin gegenüber der Polizei hatte Masaryk außerdem vor, am selben Abend zu einem zweiwöchigen
Aufenthalt in den Kurort Grafenberg in Mähren abzureisen. Es war keine Rede davon, wie er dorthin kommen wollte.
    Nachdem die Sekretärin gegangen war, brachte der Butler ein Abendessen aus Hähnchen, Kartoffeln und Salat. Als das Geschirr abgeräumt wurde, bat Masaryk darum, das Schlafzimmerfenster zu öffnen und zwei Flaschen Mineralwasser und ein Bier auf den Tisch zu stellen. »Vergessen Sie nicht«, sagte er, »wecken Sie mich um 8.30 Uhr!«
    In den folgenden ein oder zwei Stunden erledigte der Außenminister weiter seinen Papierkram, füllte einen Aschenbecher mit Kippen und schrieb eine Rede mit 126 Wörtern, die folgende Zeile enthielt: »Wir … blicken mit offenen Augen in die Zukunft.« Möglicherweise hat er noch ein wenig gelesen, denn es lagen bekannte Bücher zur Hand: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk und die Bibel seines Vaters. Dann nahm er zwei Tabletten Seconal und ging ins Bett.
     
    G egen Sonnenaufgang wurde Jan Masaryks Leiche im Hof des Ministeriums gefunden, ein paar Meter von der Wand entfernt. Er war halb angezogen, sein unbedecktes Gesicht war vor Angst verzerrt. Weit über ihm stand das Badezimmerfenster offen; im Innern war der Nachttisch (der eine geladene Pistole enthielt) umgekippt. Der Inhalt des Medizinschranks war verstreut und zerschlagen; im ganzen Bad lagen Glasscherben herum, ein schmutziges Kissen war in der Wanne, ein zweites unter dem Waschbecken. Die Schranktüren standen offen, genau wie die Schubladen der Garderobe. Bei einer Durchsuchung der Zimmer tauchte Masaryks frisch aufgesetzte Rede auf, mit Bleistift geschrieben, aber kein Abschiedsbrief. Einige Zeugen behaupteten, die Bibel sei geschlossen gewesen, andere, sie sei an einer vielsagenden und unterstrichenen Stelle aus den Briefen des Paulus aufgeschlagen gewesen: »Die aber Christus Jesus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt« (Galater 5,24). Eine Obduktion ergab Spuren von Farbe unter seinen Fingernägeln, einen langen Kratzer auf dem Bauch und zwei halb aufgelöste Schlaftabletten in seinem Magen. Seine Fersen waren zertrümmert und die Knochen zersplittert. Vertreter der Regierung beeilten sich, den
Schauplatz abzuriegeln. Schon nach wenigen Stunden waren sämtliche Rätsel um die Ereignisse der vergangenen Nacht offenbar gelöst. Die kommunistischen Behörden erklärten, dass Jan Masaryk wegen der Kritik des Westens dazu getrieben worden sei, sich das Leben zu nehmen. Der Tod war in den frühen Morgenstunden des 10. März eingetreten.
    Bild 23
    Das Bad in Masaryks Wohnung

30
DIE ZEIT LÄUFT AB
    E s war der 12. März 1948. Der Zug der Trauergäste zog sich mindestens drei Kilometer lang über den steilen Hügel bis zum Černín Palais. Sie standen zu viert nebeneinander, Studenten und Fabrikarbeiter, Lehrer und Bauern, um ihrem Honza, dem unbezähmbaren Jan, die letzte Ehre zu erweisen. Kerzen brannten an jeder Ecke des offenen Sarges; überall standen Blumen, ebenso wie Geheimpolizisten.
    13. März: Das größte Begräbnis der Nation seit dem des Gründers Tomáš G. Masaryk. Riesige Menschenmengen versammelten sich auf den Bürgersteigen und Treppenstufen, um den Leichenzug zu sehen, wie er sich von der Höhe der Burg, über die Brücke, an Schaufenstern mit schwarzen Fahnen vorbei zum Wenzelsplatz schob, und die Stufen hinauf zum riesigen Nationalmuseum. Die Trauer der Menschen hätte kaum tiefer und aufrichtiger sein können, doch die offizielle Heuchelei sollte den Ton angeben. Die zehneinhalb Jahre zwischen den Begräbnissen von Masaryk senior und junior waren von Krieg, Besatzung, Erneuerung und Auflösung gekennzeichnet gewesen; eine Reihe von Experimenten und Übergängen, die

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