Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
aufgesucht habe, um seinen Beschluss zu erklären – oder gar um Erlaubnis zu bitten. Womöglich hoffte er, dass sein Tod als eben jener vielsagender Protest gewertet werde, den er öffentlich nie geäußert hatte. »In seiner Verzweiflung«, mutmaßte Steinhardt, »hat er sich allem Anschein nach dem Selbstmord zugewandt, als einzigem Weg, um seine Enttäuschung auszudrücken.« 57 Bruce Lockhart, der englische Diplomat, zu dem Davenport in London Kontakt aufnehmen sollte, vertrat eine ähnliche Meinung:
Was er [am Grab] gedacht oder empfunden haben mag, wird man nie erfahren, aber in einem bin ich mir ganz sicher. Das Wissen, dass der Geburtstag seines Vaters scheinheilig und aus rein opportunistischen Gründen von den Männern gefeiert wurde, die sein Werk zunichte machten, muss eine Qual für Jan gewesen sein, und ich halte es für wahrscheinlich, dass er in jener einsamen Nachtwache den Entschluss fasste. Ich zweifle nicht daran, dass er Fluchtpläne ausgearbeitet hatte. Ich zweifle ebenso wenig, dass er, als es Zeit zum Handeln war, die einfachere Methode vorzog. 58
An diesem Punkt ihrer langen Geschichte hatten sich die Tschechen inzwischen an offizielle Erklärungen gewöhnt, die sie keine Sekunde lang ernst nahmen. Viele Bürger, möglicherweise die meisten, hatten den Verdacht, dass Masaryk ermordet worden war. Nicht einmal einen Monat nach dem angeblichen Selbstmord hatte auch Steinhardt seine Zweifel. »Ich kann mich nicht des Gefühls erwehren, dass an den wiederholten Gerüchten … etwas dran sein könnte«, schrieb er. Vor allem wunderte ihn das Fehlen eines Abschiedsbriefs. »Masaryk war ein begabter Schauspieler und kannte den Wert einer solchen Erklärung ganz genau. Ich glaube auch nicht, dass es jemals [eine] gab, die zurückgehalten oder vernichtet wurde, weil Masaryk zu gerissen war und genau gewusst hätte, was passieren würde, so dass er mit Sicherheit dafür gesorgt hätte, dass zumindest eine Kopie im Besitz Marcia Davenports oder meiner Wenigkeit gewesen wäre.« 59
Praktisch von dem Moment an, in dem Jan fiel, wurde der Kampf um die Rezeption seiner Person eröffnet. Die Regierung veröffentlichte einen 50-seitigen Tribut an den verstorbenen Helden und wiederholte die Theorie, dass er wegen der heftigen Kritik seitens seiner angeblichen Freunde im Westen gesprungen sei. In England sagte Dr. Klinger, der Leibarzt von Masaryk, der New York Times, dass Jan ein Flugzeug organisiert habe, das sie am Morgen seines Todes außer Landes bringen sollte, damit sie gemeinsam einen neuen Feldzug gegen den Kommunismus beginnen konnten. Für diese These sind keinerlei Beweise gefunden worden, ebenso wenig ließ sich der zweite Teil von Klingers Geschichte bestätigen, dass Masaryk nämlich in eine Schießerei verwickelt worden sei und vier seiner Möchtegernmörder getötet habe, bevor er selbst das Leben verlor. Klinger hatte angeblich einen Informanten, einen Patienten von ihm, der behauptete, er habe in jener Nacht Särge gesehen, die man von dem Ministerium wegbrachte.
Ich persönlich glaube, dass Masaryk ermordet wurde, vermutlich von Stalins Agenten. Das kann ich nicht beweisen, und es würde mich auch nicht wundern, wenn tatsächlich einmal Beweise für das Gegenteil auftauchen würden. Aber die Sowjets hatten auf jeden Fall ein Motiv, insbesondere wenn sie vermuteten, dass
Masaryk kurz vor der Flucht stand. Möglicherweise wurden Gespräche über Ausreisepläne belauscht, ob über Wanzen in seiner Wohnung oder bei einem Treffen mit Beneš im Arbeitszimmer des Präsidenten.
Die Kommunisten konnten Jan nicht einfach ins Gefängnis stecken. Sie konnten ihn auch schlecht absetzen und gegenüber der Bevölkerung weiter behaupten, dass sie seine Unterstützung genossen. Ein Selbstmord, an dem man dem Westen die Schuld gab, war die ideale Lösung. Außerdem sprechen auch das geschäftsmäßige Verhalten des Außenministers an seinem letzten Abend, das von Angst verzerrte Gesicht und die Anzeichen eines Kampfes im Schlafzimmer und im Bad, das Ausbleiben einer professionellen Untersuchung, die Eile der Regierung bei dem Urteil, das Fehlen eines Abschiedsbriefes, die halbverdauten Schlaftabletten und die Tatsache gegen einen Selbstmord, dass er sich die Zeit genommen hatte, eine Rede für den nächsten Tag aufzusetzen.
Es gibt noch einen weiteren, bislang kaum beachteten Grund, weshalb es mir schwerfällt an einen Selbstmord des Sohnes von Tomáš G. Masaryk zu glauben. In seinem ersten Buch
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