Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
wohin führten? Im Jahr 1937, als der alte Mann starb, war der Traum von einer demokratischen und humanen Tschechoslowakei noch lebendig gewesen; inzwischen war diese Vision zu etwas Finsterem und Kaltem verzerrt worden.
Für Klement Gottwald war die Zeremonie weniger ein feierliches Ritual, als eine Krönung. Kein Mensch im ganzen Land wagte es, auf die Ironie hinzuweisen, dass ausgerechnet er diese feierliche Veranstaltung leitete. Vielleicht hätte nur Jan geeignete Worte gefunden, denn die Kommunisten waren gekommen, um Masaryk zu rühmen und zugleich die Demokratie zu begraben. Aber es ist gut möglich, dass Gottwald nicht ganz wohl war in seiner Haut. Der
Mord, wenn es denn ein Mord war, war nicht seine Tat gewesen (zumindest höchstwahrscheinlich nicht). Einen Monat zuvor hätte er um ein Haar die Stellung seiner Partei stümperhaft verspielt und Jahre der Vorbereitung zunichtegemacht. Dank der Fehler seiner Gegner und Masaryks Tod war der Weg an die Macht nunmehr vorgezeichnet – aber Gottwald war zugleich Parteichef und Untergebener. Er hatte häufig seine Ansicht geäußert, dass sich der Kommunismus durchaus mit dem tschechischen Nationalismus vereinbaren lasse und dass sein Land eine Arbeiterrevolution zu Wege bringen werde, die sich von allen anderen unterscheide. Bei diesen Worten war Stalin ungehalten geworden, und wenn sowjetische Agenten Masaryk ermorden und das Selbstmord nennen konnten (offiziell wegen »Schlaflosigkeit und nervlicher Zerrüttung«), konnten sie dasselbe auch mit Gottwald tun. Aber das mussten sie nicht. Wenn Moskau die Melodie vorgab, würde er nach dessen Peitsche tanzen.
Bild 24
Leichenzug, 13. März 1948
Unter den anwesenden Regierungsvertretern war auch Vlado Clementis, Jan Masaryks Nachfolger im Amt des Außenministers. Es war seine Aufgabe, bei der Grablegungszeremonie in Lány eine Rede zu halten. Clementis war einer der beiden Kabinettsminister gewesen, die man nach dem Auffinden der Leiche in Masaryks Wohnung gerufen hatte. Was war ihm wohl durch den Kopf gegangen, als er die Wohnung betrat und ein völliges Chaos vorfand? Er hatte eine Notiz gesucht und nichts gefunden außer der Rede, die Jan vorbereitet hatte, und einigen persönlichen Andenken, die er später an Marcia Davenport schicken sollte. Was mochte er gedacht haben, als er das schmale Badezimmerfenster betrachtete, durch das sich der stämmige Sechzigjährige angeblich gezwängt hatte, statt das viel leichter zugängliche Fenster im Schlafzimmer zu wählen? Hatte der Mann sich wirklich entschieden, sein Leben mitten in der Nacht zu beenden – barfüßig und im Schlafanzug, bei dem Oberteil und Hose noch nicht mal zusammenpassten? Hatte er beschlossen, sich umzubringen, kaum zehn Tage nachdem Drtina mit furchtbaren Folgen dasselbe versucht hatte? Und wenn er den Tod gewählt hatte, warum hatte er nicht die Pistole genommen oder die Dosis Schlaftabletten vervierfacht? War Clementis womöglich wegen der Schnelligkeit und Nachlässigkeit der sogenannten Ermittlung beunruhigt? Hatte er gewisse Zweifel an der offiziellen Version der Ereignisse? Masaryks Tod hat er mit Sicherheit betrauert. Seine Vorstellung vom Kommunismus wich von jener ab, die Moskau diktierte. Das war ein Tribut an den Charakter Clementis’ und ein Grund (wie wir sehen werden) für seinen eigenen Rücktritt.
Die erste Reaktion vieler Freunde und Bekannter Jans sah so aus, dass sie die Vorstellung, dass er Selbstmord begangen hatte, akzeptierten. Sie kannten die dem widersprechenden Hinweise nicht
(denn niemand sagte etwas darüber), aber sie wussten von Masaryks Neigung zu düsteren Stimmungen. Mein Vater erfuhr auf einer Exkursion in Jugoslawien mit einer Gruppe tschechoslowakischer Touristen von dem Tod. Er neigte aufgrund seiner letzten Begegnungen mit Jan zu der Meinung, dass es durchaus möglich war, dass ein so sehr von Sorgen gezeichneter Mann zum Selbstmord getrieben worden war. Meine Mutter war anderer Meinung; sie kannte die Abneigung ihres Freundes gegen Schmerzen und dachte, selbst wenn er beschlossen haben sollte, sich umzubringen, so hätte er es niemals auf die beschriebene Weise getan.
In seinem Bericht an Washington am Nachmittag der Tragödie mutmaßte Botschafter Steinhardt, dass Jan an einer Zerreißgrenze angelangt sei und es den Kommunisten nicht gestatten wollte, den Namen seiner Familie zu missbrauchen. Er deutete an, dass der Außenminister unter einer Depression gelitten und dass er das Grab seines Vaters
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